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Schreibwettbewerb-Sieger: "Am Ende"

Diesmal war eure Meinung eindeutig: Mit ihrer berührenden Erzählung "Loslassen" hat ketchuperdbeere eure Leserherzen im Sturm erobert und völlig verdient unseren Schreibwettbewerb gewonnen

Loslassen (von ketchuperdbeere)

Das Zimmer ist weiss. Ein unnatürlich klares Weiss. Die Bettdecke, das Kissen, das Nachttischchen, das Telefon darauf, die Wände, die Decke, die Fensterrahmen und sogar die bauschigen Vorhänge vor den Fenstern haben diese abweisende Farbe. Ich komme mir fremd vor, in diesem Zimmer. Wie ein Eindringling, wie ein Schmutzfleck auf dieser weissen Farbe. Ich schiebe das Essenstablett fort, das mir vor wenigen Augenblicken eine Schwester gebracht hat. Auch sie hatte eine weisse Weste an. Es war eine mollige Frau mit dunklen, zu einem dicken Zopf gebundenen Haaren. Sie hat sich kurz zu mir gesetzt und mir ein wenig Klatsch und Tratsch erzählt, um meine Einsamkeit zu vertreiben, die im Zimmer lag, wie ein schlechter Geruch. Doch jetzt fühle ich mich wieder genauso alleine wie zuvor. Das Bett neben mir ist leer. Die Patientin, die vorher darin gelegen hat, wurde vor gut einem Monat umquartiert.

Ich seufze. Alles was ich jetzt gerne gemacht hätte, kann ich nicht tun. Früher war meine Leidenschaft Volleyball. Stundenlang konnte ich diese Sportart spielen. Zweimal in der Woche ging ich in einen Club und einmal hat meine Mannschaft sogar eine Meisterschaft gewonnen. Aber das liegt so weit zurück. So weit. Ich seufze noch einmal und greife nach dem abgegriffenen Buch, das auf dem Boden liegt. Der Einband ist altrosa mit kleinen, dunkelroten Blüten darauf. Auf der Innenseite steht eine Widmung.

'An Noa, meine kleine Schwester, die ich immer beschützen und für die ich immer kämpfen werde. Auf das sie einmal eine grosse Schreiberin wird.'

Ich muss lächeln. Ach Thomas, wenn du jetzt nur hier wärst, denke ich und wünsche mir wie jedes Mal, wenn ich diese Zeilen lese, dass er zurückkehrt. Zurück nach Deutschland. Zurück zu mir. Ich schlage das Buch irgendwo in der Mitte auf. Meine Handschrift blickt mir entgegen. Rote Farbe auf gelblichem Papier. Dieses Gedicht habe ich geschrieben, als meine Krankheit noch nicht bekannt war.

Loslassen
Loslassen
© pischare / photocase

Lachen

Lachen ist wie ein warmer Sonnenstrahl.

Lachen ist wie ein fröhlicher Schmerz.

Lachen hört man überall.

Ein echtes Lachen springt aus dem Herz.

Lachen ist wie ein Willkommensgruss

Lachen ist eine unglaubliche Pracht.

Lachen ist wie ein Fluss,

der alle Wunden sauber macht.

Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und salzige Tränen fallen auf Papier. Hemmungslos fange ich an zu schluchzen. Wenn Thomas da wäre hätte er mich jetzt an seine Brust gedrückt und gesagt, dass alles gut werden würde. Aber es wäre eine Lüge gewesen. Vor etwa einer Woche- oder sind es mehr? - sind die Ärtzte in dieses Zimmer gekommen. Meine Mutter war ganz aufgelöst. Die ganze Zeit hat sie mit rotgeweintem Gesicht neben mir gestanden. Blass wie eine Leiche. Als die Doktoren wieder gegangen sind hat sie mich gedrückt und gesagt, dass ich ganz sicher nicht sterben werde und dass wir bestimmt ein Spenderorgan bekommen werden. Ich bin nur dagesessen und habe abwesend genickt. Ich habe ihr nicht geglaubt. Ich wusste, dass meine Zeit gekommen war.

Von draussen höre ich jetzt Gelächter und Stimmen. Ich schlage die Decke zurück und gehe mit tapsigen Schritten zum Fenster. Ich schiebe die dünnen Leinenvorhänge zur Seite und blicke in den Spitalgarten. Der Besitzer hat sich hier besonders Mühe gegeben. Alles ist farbig. Es gibt keine geordneten Blumenbeete, keine quadratischen Grasflächen. Alles ist wild durcheinandergemischt, als wäre es in einer Salatschleuder gewesen. Neben roten Rosen schiessen einige knorrige Eichen in die Luft. Hier hat es ein paar Büsche, da ein Blütenmeer aus Veilchen, Vergiss-mein-nicht, Rosen, Tulpen, Osterglocken, Stiefmütterchen und Sonnenblumen. Sogar ein paar exotische Orchideen kann ich erhaschen. Durch dieses Wirrwarr an Pflanzen schlängelt sich ein schmaler Weg an dessen Rand in einheitlichem Abstand Bänke stehen. Einige Kinder rennen dort draussen herum. Sie versuchen sich gegenseitig zu fangen und lachen ihr besonderes Kinderlachen. Ein älteres Paar geht auf dem erdigen Weg spazieren. Und eine Frau sitzt auf einer der Bänke, ein Baby im Arm.

Plötzlich bilden sich in meinem Kopf Wörter, die zu Sätzen werden und sich miteinander verbinden. Ich nehme einen Stift vom Tischchen und schlage mein Buch auf der letzten Seite auf, obwohl es davor noch viele leere Seiten hat. Ich setze den Stift an, überlege dann noch einmal kurz und fange an zu schreiben:

Ende

Das Ende kommt unauffällig

Und leise

Das Ende kommt unaufhaltbar,

und auf seine Weise

Erkennt man das Ende zu spät

ist es unveränderbar.

Doch erkennt man es schon früh.

Ist alles verständlich und klar.

Manche fürchten sich vor dem Ende.

rennen vor ihm fort.

Andere blicken ihm mutig ins Gesicht.

Folgen dem Ende auch an einen anderen Ort.

Ich starre noch eine Weile auf die Worte und denke, dass ich zu den Letzteren gehöre. Ich bin nicht wie meine Mutter, die mich nicht loslassen will. Ich weiss, dass ich sterben werde. Es ist, als ob ich es schon die ganze Zeit gewusst hätte. Ich gehe wieder zum Fenster. Es ist dunkler geworden und die Nacht greift nach dem Himmel wie das Ende nach mir greift. Kleine, watteähnliche Wolken schweben über dem Horizont. Sie färben sich langsam rosa und die Sonne taucht sie zusätzlich in ein goldenes Licht. Der rote Sonnenball ist knapp über dem Hügel und wird bald untergeh’n. Es ist, als würde sie mir ein letztes Mal zuwinken. Die Kinder sind gegangen und ich kann die Farben der Blumen nicht mehr ausmachen. Die Nacht hat sich über die Welt gelegt, wie ein dunkler Mantel. Die ersten Sterne leuchten am Himmel und ich kann den Gürtel des Orions sehen. Thomas hat ihn mir gezeigt.

"Siehst du diese drei Sterne, die in einem Dreieck stehen? Sie sind der Gürtel. Und unterhalb kannst du zwei kleinere Sterne sehen. Das ist sein Schwert.", hat er zu mir gesagt, als wir einmal nachts rausgeschlichen sind.

Plötzlich zischt etwas Helles über den Himmel. Es ist eine Sternschnuppe. Ich wünsche mir so fest ich kann, dass es Thomas gut geht. Dass er zurückkehren und sich um meine Mutter kümmern wird. Es ist eine gute Nacht um loszulassen. Um mich von der Welt zu verabschieden. Denn jede Geschichte hat ein Ende. Auch meine.

Hier könnt ihr andere Gewinnerbeiträge unseres Schreibwettbewerbs lesen

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