Entdeckungen (von Noja)
Deanna wollte nur noch weg. Sie rannte, rannte, nur weg. Raus. Sich auspowern. Bis zur Grenze. Am liebsten würde sie sich runterstürzen. Ins Nichts. Nein, falsch. Ins Alles. In die unendlichen Weiten des Weltalls. Doch das ging nicht. Sie schnaufte. Körperliche Betätigung war sie nicht gewohnt. In ihren leben hatte körperliche Arbeit keinen Platz. Sie wurde langsamer.
Da vorne kam auch schon die Glaswand des Domes in Sicht. Als die Umweltverschmutzung, die Verunreinigung des Wassers und der Luft, vor etwa 15 Jahren zu schlimm geworden war, hatten die Regierungen beschlossen, die größeren Siedlungen von Glaskuppeln, den so genannten Domes, zu umschließen. Deannas Eltern hatten ihr erzählt, dass es am Anfang eine ziemliche Umstellung gewesen war, ständig eingeschlossen zu sein, doch Deanna war damit aufgewachsen. Sie kannte es nicht anders. Es war ja auch alles da, was man brauchte.
Eine Welt ohne Gesang
Sie seufzte und machte sich Musik von ihrer Lieblingsband, 100110, an. Sie hatte einen altmodischen "iPod", ein Produkt der Weltwirtschaftskrise von vor 20 Jahren. Die Musik ihrer Zeit war wie die Zeit selbst: kalt, dumpf, praktisch, Technik–fixiert. Deanna interessierte sich sehr für "alte" Musik, zum Beispiel das, was ihre Eltern in ihrer Jugend gehört hatten. Auch das gefiel ihr gut. Doch diese Musik war so ... so emotional. Zuerst hatte sie es sehr verwirrend gefunden, dass während der Musik auch noch jemand sprach. Nein, wie nannten ihre Eltern es noch einmal? Singen, genau. Das gab es in der modernen Musik nicht. Wozu brauchte man es auch? So war es in ihrer Gesellschaft: Nur das galt, was effektiv war. Keine Schnörkel, nur das, was man brauchte.
Auch vom damaligen Schulsysten hatte Deanna gehört. Das fand sie ziemlich albern. Warum sollte man alles lernen, auch wenn man es für das spätere Leben gar nicht gebrauchen konnte? Wozu sollte sie malen können, wenn sie Ärztin werden wollte? Solche Fragen musste man sich jetzt nicht stellen. Sie konnte wählen: Wollte sie Biologie, Mathematik und Latein für ihren Beruf als Ärztin lernen? Oder würde sie sich doch lieber auf einen Beruf als Autorin festlegen? Dann könnte sie Deutsch, Kreativität und Schreiben wählen.
Deanna ließ sich auf den Boden sinken. Sie wünschte, sie wäre nie so neugierig gewesen und hätte nie versucht, herauszufinden, was ihre Eltern vor ihr zu verbergen versuchten, seit sie denken konnte. Hätte sie es nur nicht herausgefunden. Hinter sich hörte sie gleichmäßige Schritte. Schnelle Schritte.
Auch in der Zukunft stets zu Diensten: Dobby
Es war Dobby. Wider ihres Willens huschte ein kleines Lächeln über Deannas Gesicht, als sie Dobby rennen sah. Es sah so witzig aus, wie er sich bewegte. Seine Bewegungen hatten so etwas seltsam Abgehacktes.
Was wohl daran lag, dass Dobby ein Android war, ein menschenähnlicher Roboter. Er hatte ein positronisches Gehirn, konnte aber über keinerlei Emotionen verfügen. Wie auch?! Dobby stand im Dienste ihrer Familie, als eine Art Diener. Deanna hatte nie verstanden, warum die Menschen sich die Androiden als Diener hielten, wo sie doch so vielfältige Fähigkeiten hatten. Dazu waren sie auch noch unfehlbar. Was wollte man mehr? Sie selbst hatte Dobby so getauft, nach einem Elfen, über den sie in einem dieser alten Klassiker gelesen hatte. Dieser Dobby hatte auch immer so untertänig gedient. "Kann Dobby noch helfen?", "Benötigt die Herrin noch etwas?". Was aber auch die einzige Gemeinsamkeit zwischen den Namensvettern blieb. Denn war der eine Dobby eine Romanfigur aus dem 20. Jahrhundert, der andere eine Maschine.
Dobby trat auf sie zu. "Bitte, Eure biologischen Erzeuger wünschen, dass sie zu ihrem festen Wohnsitz zurückkehren!" "Dobby, lassen Sie´s gut sein. Ich werde nicht wiederkommen!" "Ihre Erschaffer wünschen es jedoch ausdrücklich! Sie lassen ausrichten, dass das, was Sie herausgefunden haben, nichts an ihrer Liebe zu Ihnen ändert!" "Aber an meiner zu ihnen. Bitte, gehen Sie jetzt!"
Bevor Dobby auch nur einen Schritt getan hatte, hatte Deanna sich umgedreht und die ohren- und hoffentlich auch gedankenbetäubende Musik ihrer Lieblingsband wieder angemacht. Deanna schüttelte den Kopf. Die Gedanken würden nicht aufhören. Nicht, wenn sie rannte, sich über natürliche Dinge Gedanken machte, nicht, wenn sie Dobby wegschickte und damit den Kontakt zu ihren Eltern abbrach, nicht mit der Musik. Der Musik, die sie sonst von allem ablenken konnte.
Nichts würde Deanna darüber hinwegtäuschen können, dass sie ein Klon war. Der Klon ihrer verstorbenen älteren Schwester, von der sie nie etwas gehört hatte. Bis heute.