"Fataler Stromausfall" von Tuana
"Es ist lange her... aber ich habe gelernt, was der wahre Wert des Menschen ist." Der alte Mann beugte sich zu mir. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich sah die hunderten, feinen Falten, die selbst die Lippen durchfurcht haben. Seine Tränensäcke hoben sich unter den stechend blauen Augen hervor, die einen seltsamen Kontrast zu dem sonst so gealterten Antlitz standen. Sie waren klar und von einem leuchtenden Marineblau. Er zögerte, bevor er weitersprach.
"Wenn die Menschen in Panik geraten, sich bedroht fühlen, werden sie zu wilden Tieren. Rücksicht kennen sie nicht, es geht nur darum, die eigene Haut zu retten. Und wenn sie dabei über Leichen steigen müssen", die Stimme des alten Mannes wurde bitter. Er lehnte sich zurück in den graubraunen Sessel. "Genau das ist der Grund, weshalb ich Minentaucher geworden bin. Ich wollte nicht die Fehler der Anderen begehen." Der Greis hielt inne. Ich lehnte mich vor, um zu zeigen, dass ich mehr hören wollte, die Wahrheit wissen wollte. Es dauerte eine Weile, bis er sein Schweigen brach.
"Es war der dreizehnte August 1954. Damals bin ich gerade zehn Jahre alt geworden... und war ein ziemlicher Schwächling. Ich war verweichlicht, stark asthmatisch und überhaupt von zarter Gesundheit. Die Türkei, Griechenland und Jugoslawien schlossen in Bled den auf zwanzig Jahre befristeten Balkanpakt. Mein Vater wurde nach Slowenien beordert und deshalb waren meine Mutter und ich alleine.
Wir wollten gerade das neue Kaufhaus verlassen und stiegen in den Fahrstuhl. Ich betrachtete die anderen Leute im Aufzug, wie ich es früher gerne tat. Ein offenbar sehr wichtiger Mann mit Anzug und Aktentasche, ein ernster, älterer Herr, der am Stock ging und natürlich meine Mutter. Etwas rundlich und ein rundes, weiches Gesicht, genau wie ihr Charakter, warmherzig und sensibel. Ich wandte mich gerade wieder ab und machte einen Schritt auf die Tür zu, als es passierte. Der Strom fiel aus. Einfach so.
Im ersten Moment war ich einfach nur verdutzt. Mir war nicht klar wieso das Licht plötzlich ausging. Ein klammes Gefühl stieg in mir auf, als wir die panischen Schreie und Rufe hörten. Die Dunkelheit schien plötzlich undurchdringbar und bedrohlich. Ich hörte ein leises Wimmern und erst ein paar Augenblicke später bemerkte ich, dass es mein eigenes war. Mein Atem ging stoßweise vor Panik.
"Mutti", jammerte ich. Ich spürte, wie sie hinter mich trat und die Arme um mich schlang. "Die Lippenbremse. Samuel, du musst die Lippenbremse machen!" Ich nickte hastig und versuchte gegen meine rebellierende Lunge anzukämpfen. Aber ich merkte, wie meine Luftröhre immer enger wurde. Das Atmen wurde zur Qual. Trotzdem versuchte ich die Luft aus dem Brustkorb zu pressen.
Nur am Rande nahm ich wahr, dass auch in die beiden Männer wieder Leben zu kommen schien. Der ältere sank stöhnend zu Boden, während der andere wie wild mit den Fäusten gegen die Tür trommelte und um Hilfe schrie. Aber irgendwie ahnte ich, dass das Gebäude längst verlassen war. Die Ausgänge mussten verriegelt worden sein, denn eine ungewöhnliche Stille herrschte um uns herum.
Als ich die schlimmsten Minuten des Asthma-Anfalles überwunden hatte, schloss ich die Augen. Ich lauschte dem Keuchen des alten Mannes und war fast eingedöst. Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren, es musste längst dunkel sein. Draußen blieb es ruhig, nur manchmal hörten wir stampfende Schritte vorbeigehen. Dann zuckten wir jedes Mal zusammen und versuchten möglichst kein Geräusch zu verursachen. Irgendwie sagte uns unser Gefühl, dass es besser wäre, sich lieber nicht bemerkbar zu machen.
Ich wusste nicht genau, was da vor sich ging, aber ich versuchte mir den Ablauf zu rekonstruieren. Eine Gruppe von Banditen musste das Gebäude besetzt haben. Die Menschen waren panisch heraus gestürmt sein und die Männer plünderten wahrscheinlich die Geschäfte. Dass sie unabsichtlich vier Geiseln hatten, wussten sie offenbar nicht. Was sie danach vorhatten, konnte ich nur ahnen – ich hoffte bloß, sie würden uns nicht entdecken.
Wieder hallte das Poltern von schweren Stiefeln durch das wie leer gefegte Kaufhaus und riss mich aus meinen Gedanken. Ich drückte mich an meine Mutter und genoss die tröstliche Wärme. Nur der Atem des Alten schnaufte laut. Zitternd betete ich, dass der Dieb uns nicht bemerkte. Er schien immer lauter zu keuchen, während ich versuchte, die Luft anzuhalten. Ein dumpfer Knall wie von einem fallenden Körper, begleitet von einem grauen erregenden Knacken war zu hören, und ich erkannte, obwohl ich ihn nicht sehen konnte, dass der ältere Herr tot war. Der Stress war wohl zu viel für ihn gewesen. Meine Mutter schluchzte leise, mich immer noch fest im Griff, aber ich blieb erstaunlich ruhig.
Ich hatte umsonst gebetet. Die Schritte verstummten für einen Moment und näherten sich. Im ersten Augenblick vernahm ich nichts, dann ertönte ein harscher, knapper Satz in einer mir fremden Sprache. Der Mann trat gegen die Tür. Erschrocken zuckten wir zurück, meiner Mutter entfuhr ein leiser Schrei. Wieder ein rauer Ausruf, mehr ein Zischeln. Erneut schlug der Mann gegen den Aufzug und von da an, ging alles ganz schnell.
Aus sämtlichen Richtungen knallte es und man hörte das Schießen von Gewehren. Laute Zurufe und Befehle erklangen. Ich sprang auf die Beine und schrie um Hilfe. Meine Stimme war heiser, doch ich hatte Glück. Eine halbe Stunde später wurde die Lifttür mit einem Stemmeisen ausgehebelt. Wie durch Nebel sah ich einen Feuerwehrmann mit schwarzem Anorak und glänzenden Knöpfen. Drei verschreckte Gestalten spiegelten sich in seinem silbernen Blechhelm.
Als ich später, in eine graue Decke gehüllt, den Sonnenaufgang vom Feuerwehrauto aus betrachtete, nahm ich mir vor, um jeden Preis an der Beerdigung des namenlosen, alten Mannes teilzunehmen. Er sollte nicht umsonst gestorben sein, dachte ich, während ich dem leuchtenden Morgenrot entgegen blinzelte, denn ich würde mein Leben der Rettung von Menschen widmen, egal wie. So etwas wie die letzte Nacht, sollte nie wieder passieren.