Ein Lämmchen ist verschwunden! In die Gletscherspalte gerutscht! Als Uli, einer der Schäfer, es bemerkt, ist das Junge schon nicht mehr zu sehen, nur noch ein schwaches Blöken hallt aus dem Spalt im schmutzig grauen Eis. Uli - ein starker Mann mit mächtigen Unterarmen - wirft sich auf den Boden, lockt und fleht. "Bitte komm!" Nicht mehr lange, und Uli wäre mit seinen Schafen über den Berg gewesen. Wäre hinabgestiegen auf die Almen des Rofenberges, wo das Gras grüner und saftiger ist. Seit Jahrhunderten ziehen die Bauern des Schnalstals darum mit ihren Schafen über den Alpenhauptkamm dorthin. Jetzt, Anfang Juni, hinüber. Im September zurück. Doch nun - das.
Früh gegen fünf, als das Licht gerade eben hell genug war, sind sie aufgebrochen: von Kurzras den steilen Hang hinauf, über den Hochjochferner auf die Almen am Rofenberg, oberhalb des Ötztals. 27 Männer mit fast 2000 Schafen – verteilt auf mehrere Gruppen: Sie alle gehen nicht, sie "fahren" über die Berge, so heißt das im Schnalstal.
Eine Reise durch Schnee und Eis ...
Doch jetzt, im Dämmerlicht des Morgens, dauert es eine kleine Ewigkeit, bis Uli und sein alter Freund, der Hans, ihre Gruppe in Fahrt bringen. Die Tiere wollen nicht losgehen, drängen sich nur blökend und mit ihren Glöckchen bimmelnd zusammen: ein Chaos aus Köpfen und Wolle. Dann wagen sich einige der erfahrenen Mutterschafe voraus - die Lämmer auf ihren Streichholz-Beinchen staksen hinterher. Die älteren Tiere kennen diesen unsichtbaren Pfad durch die Berge, der nur 15 Kilometer lang ist, doch fast 900 Höhenmeter hinaufführt und sich oben über Gletschereis windet. Es ist eine Reise wie durch die Jahreszeiten und mitten hinein in die Geschichte des Tals. Das Schnalstal ist Schafland, immer gewesen. Die Schnalstaler Schafe - groß und gutmütig - belieferten die Menschen seit jeher mit allem, was sie zum Leben brauchen: Milch, Fleisch, Wolle. Schafe waren das Kapital der Bergbauern. Nicht von ungefähr stammt der lateinische Begriff für Geld "pecunia" von "pecus" ab. Übersetzt: Kleinvieh - und damit auch Schaf.
... seit fast 600 Jahren ...
Bloß die Tiere satt zu bekommen war stets ein Problem. Die steilen Almen des Schnalstals sind mager. Darum wagten die Bergbauern irgendwann den Gewaltmarsch über den Alpenhauptkamm Richtung Norden. Im Jahr 1415 erhielten sie offiziell das Recht, ihre Tiere dort übersommern zu lassen. Seither kommen sie Jahr für Jahr, auch wenn sich die Zeiten geändert haben. Schafswolle ist kaum mehr etwas wert. Die 27 Männer, die sich aufgemacht haben, sind Hobby-Schäfer. Von den Tieren leben können sie nicht mehr, aber noch weniger ohne sie. "Die gibst du nicht auf ", sagt Hans. Er ist zum 70. Mal dabei! Heute lässt er für den Schafszug die Geburtstagsfeier seines Sohnes sausen. "Die Schafe brauchen mich doch", sagt er. Und: "Hoi! Hoi! Hoi." Voran, heißt das. Vier Stunden ist der Schafszug unterwegs. Es ist immer karger geworden und kälter. Die Wege sind winterweiß, im Juni! Nebelfetzen ziehen auf. Ein Glück, tragen die Schafe - je nach Bauer - bunte Flecken auf ihren Rücken: von postgelb bis neongrün. Sie wären sonst unsichtbar. Hörbar sind sie dagegen immer, überall. Gebimmel, Gebammel. Und Gebummel. Unermüdlich prescht Kranzi, Hans' Hütehund, an die Flanken der Herde und zurück. Auf den schmalen Pfaden im Schnee darf kein Schaf trödeln. Dann kommt es zu Geschiebe, Panik. Noch geht alles gut.
... hin zu den saftigen Wiesen
Weiter – über einen Flickenteppich aus Schnee, Schutt und Eis. Uli, der vorausgeht, kann die Tiere kaum bremsen. Doch er muss den rechten Weg finden, vorbei an den Gletscherspalten, die sich manchmal ganz plötzlich auftun. Die kleinen Schafhufe schlittern über den eisigen Untergrund. Und dann, plötzlich, passiert es. Das Lamm rutscht ab. Uli zerrt das Mutterschaf herbei, bimmelt mit dessen Glocke, zwickt es, damit es blökt. Das Lamm kennt die Stimme. Vielleicht, hoffentlich findet es so den Weg zurück. Dann, endlich, ist das Maul zu sehen. Der Kopf. Aus eigener Kraft springt das Lamm die Eisspalte hinauf. li und das Lämmchen müssen minutenlang durchatmen, ehe sie die Fahrt über den Berg fortsetzen. Noch ein gerölliger Abhang, auf dem Bergschuhe kaum haften. Ein Schaf nach dem anderen tippelt hinab. Von Weitem scheint es, als hätte ein Riese einen gigantischen Wollfaden um den Hang gewickelt. Und dann, gegen drei, sind sie da. Nach und nach trotten alle 2000 Schafe auf die grünen Almen rund um den Rofenberg. Einer der Schäfer, der Willi, wird dort den Sommer verbringen, nach dem Rechten sehen und sich um kranke Lämmchen kümmern. Eines hat er schon in seiner Obhut: Es ist am letzten Anstieg einfach erschöpft liegen geblieben. Nun ruht es, in eine Fleecejacke gehüllt, in der Schäferhütte. Willi päppelt es mit Milch. Er ist aber zuversichtlich, im September mit allen Tieren zurückzufahren ins Schnalstal. Auch mit diesem Lamm – und jenem aus der Gletscherspalte.