Der Brink
An einem Mittwochnachmittag im April 2017 war der Wille zur Zerstörung zurück in Rostock-Lichtenhagen. In Schrittgeschwindigkeit bahnte er sich seinen Weg über den Lichtenhäger Brink, den denkmalgeschützten Boulevard des Stadtteils, der schnurgerade durch einen Plattenbau-Canyon führt.
Er schob sich vorbei an blühenden Kirschbäumen, Ginsterbüschen und kahlen Rabatten. Vorbei an den sieben Brunnenbecken, deren Abdeckhauben von Graffiti befallen waren. Vorbei an einer Ladenruine, die einmal eine Buchhandlung war, und am Imbiss eines wackeren Vietnamesen, bei dem sich die Anwoh- ner abends öfter Bier, Schnaps und Zigaretten mitnehmen als gebratene Nudeln mit Hühnerfleisch.
Ein Mädchen mit Schulranzen und ein Rentner mit blauer Schiffermütze auf dem Kopf traten ehrfürchtig einen Schritt zur Seite. Als die Kaltfräse, eine rote Baumaschine mit Kettenantrieb und der Statur einer Lokomotive, auf dem zentralen Platz des Brinks angekommen war, begann sie ihr Zerstörungswerk, zerbröselte kalt tosend ein Schachfeld aus Betonplatten unter sich.
Seit der Wende war der 500 Meter lange Lichtenhäger Brink, Lebensader des Stadtteils, verfallen: die Geschäfte geschlossen, die Grünanlagen verwildert. Immer wieder waren Delegationen der Hansestadt Rostock gekommen, über den Brink gegangen, hatten Mängellisten geschrieben, Sanierungskonzepte, Förderanträge.
Letztlich passierte nichts, weil kein Geld da war. Zumindest kein Geld für Lichtenhagen. Nun wurde der Brink aber endlich doch saniert. Die Kaltfräse zerstörte alte Betonplatten, doch eigentlich war sie ein Bote der Erneuerung für einen Stadtteil, der seit einem Vierteljahrhundert dazu verurteilt war, in seiner Vergangenheit festzuhängen.
Denn so wie der Brink ein Schandfleck war in Lichtenhagen, so war Lichtenhagen selbst als Ort deutscher Schande verschrien. Seit jenen unheilvollen Sommertagen vor 25 Jahren.
Der Abend im August 1992
An einem schwülen Samstagabend im August 1992 versammeln sich 2000 Menschen vor dem Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen. Sie sind wütend, weil seit Wochen Flüchtlinge aus Rumänien vor dem elfgeschossigen Plattenbau kampieren.
Rostocker Jugendliche zertrümmern die Gehweg- platten vor dem Sonnenblumenhaus. Die herausgebrochenen Steine werfen sie in die Fenster der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber.
Es ist der Auftakt für ein Volksfest des Hasses. Auch an den folgenden Tagen beklatschen Tausende Anwohner und Schaulustige den Mob, dem sich an den folgenden Tagen Rechtsextreme aus dem gesamten Bundesgebiet anschließen. Sie stärken sich bei der herbeigekarrten Imbissbude "Happi, Happi bei Api", stimmen in den Chor mit ein: "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus."
In der dritten Nacht brennt das Wohnheim der Vietnamesen, ehemalige DDR-Vertragsarbeiter, im Sonnenblumenhaus. Etwa 120 Menschen entkommen dem Tod nur knapp über das Dach. Rostock-Lichtenhagen wird zur Chiffre für offen ausgelebten Fremdenhass im wiedervereinigten Deutschland. Der Bundestag verschärft daraufhin das Asylrecht.
Offenbar werden nicht die Täter als Problem gesehen, sondern die Opfer. Für den Stadtteil und seine Bewohner blieb seitdem das Stigma. Der Rapper Marteria, der in der Nachbarschaft aufgewachsen war, dichtete in seiner Ode an seine Heimatstadt: "Deine Feinde kennen dich genau, doch sehen in dir nur dein brennendes Haus."
Ich wollte mehr sehen als das brennende Haus. Ich wollte verstehen, was damals passiert war, und warum Lichtenhagen seine bösen Geister nur schwer los wird. Und ich wollte wissen: Kann das wieder passieren? Also wohnte ich drei Monate in Lichtenhagen. Anfang Februar 2017 zog ich in eine Zweiraumwohnung in der Wolgaster Straße.
Ein vom Meer kommender Nebel verschluckte manchmal die Plattenbauten; draußen vor dem Fenster kreisten und krächzten die Möwen. Bei günstigem Wind hörte ich das Aufeinanderkrachen schwerer Eisenteile von den Werften an der Mündung der Warnow.
Von der Wohnung im vierten Stock hatte ich gute Sicht auf den Brink. Sobald die Sonne herauskam, bevölkerten Familien die Spielplätze. Die Alten hängten ihre Wäsche draußen an die Wäscheleinen, ganz so wie früher, in der DDR.
In zwanzig Minuten war ich mit dem Fahrrad am Ostseestrand bei Warnemünde, mit der S-Bahn zügig in der Rostocker Innenstadt. Dort traf ich Menschen, die sich viele Gedanken über die Erinnerungskultur zum Pogrom von 1992 machten. So hatte sich das offenbar seit Jahren verfestigt: dass sie in Rostock mahnend zurückschauen wollten. Und in Lichtenhagen lieber nach vorn.
Im Stadtteil selbst war die Kontaktaufnahme schwierig. Ein Bewohner des Sonnenblumenhauses, bei dem ich klingelte, kam im Freizeitanzug hinunter zur Eingangstür, nur um eines klarzustellen: "Hier im Haus redet niemand mit der Presse."
Ich besuchte Sitzungen des Ortsbeirats, das Stadt- teilbegegnungszentrum, die Stadtmission auf dem Brink. Alle Menschen dort hatten Sehnsucht nach Aufbruchstimmung. Aber wenn ich Lichtenhagen als Suchbegriff im Internet eingab, fand ich nur Fotos von den Straßenschlachten vor dem Sonnenblumenhaus. Fotos von Kindern, die Journalisten – wohl auch für Geld – den Hitlergruß zeigten. Fotos von 1992.
Armdrücken mit Abrissbirne
Man hatte mich gewarnt vor der einzigen Kneipe in Lichtenhagen: Im Krug säßen die "Übriggebliebenen". Gleich am ersten Abend baute sich ein betrunkenes Männlein mit schiefer Nase am holzvertäfelten Tresen vor mir auf und entbot ungefragt einen lächerlichen Hitlergruß, als wäre es Charlie Chaplin in "Der große Diktator". Später am Abend wurde das Männlein mit Gewalt aus der Kneipe geworfen, jedoch nicht wegen des Hitlergrußes.
Nach dieser Nacht gab ich mich lieber nicht als Journalist zu erkennen. Als neues Gesicht hatte man es im Krug schon schwer genug. "Dir ist schon klar, dass das eine Kneipe für Rechtsextreme ist", fragte mich ein Zecher mit Glatze und Jeansjacke nach ein paar Abenden, an denen ich mich mit einem alten Seemann über die DDR unterhalten hatte. Ich ging eingeschüchtert und kam wieder, wurde zum Armdrücken herausgefordert und hatte nach Sekunden gegen einen Mann verloren, den sie "Abrissbirne" nannten, was gut passte. Der Krug war kein freundlicher Ort.
Hier wurde geflucht, wenn ein Spiel von Hansa Rostock im Fernsehen lief und der eingewechselte „Neger“ den Ball nicht abspielte. Hier hauten Männer der Barfrau auf den Hintern, und sie ließ es geschehen. Doch für manche war die Kneipe ein Zuhause.
Ich schaute mir Zahlen an: In sämtlichen Statistiken der Hansestadt Rostock lag Lichtenhagen in der Gegenwart im Mittelfeld. Als hätten sich seine Bewohner stillschweigend darauf geeinigt, bloß nie wieder negativ auffallen zu wollen.
Etwa jeder Fünfte im Wahlkreis Rostock I, zu dem Lichtenhagen zählt, hatte bei der Landtagswahl 2016 AfD gewählt, wie der Durchschnitt Mecklenburg-Vorpommerns. Leer stehende Wohnungen gab es fast keine. Die Einkommen waren niedrig, doch die Arbeitslosigkeit sank und lag unter zehn Prozent.
Nur der Ausländeranteil, der hatte sich seit 1992 ungefähr versechsfacht. Auf 7,7 Prozent, mehr nicht, in Berlin sind es durchschnittlich 30 Prozent. Lichtenhagen war seit 1992 vor allem älter geworden. In die Eckläden auf dem Brink zogen Pflegedienste ein.
Mit 359 Wohnungen in sieben Aufgängen und gut 700 Bewohnern ist das Sonnenblumenhaus ein Monolith. Aus dem Fenster in der obersten Etage konnte ich die Ostsee sehen. Als blaues Band, verziert mit Containerfrachtschiffen, lag sie am Horizont.
In einer Wohnung in der Mecklenburger Allee 16 saßen die Rentner Dieter Hagen und Günther Struppe. Vor ihnen auf dem Tisch eine Flasche Bier, hinter ihnen eine Vitrine mit einer drapierten Mineraliensammlung. Beide gehörten 1979 zu den ersten Mietern, die ins Haus eingezogen waren. Mit herausforderndem Blick warteten sie darauf, dass ich ihnen Stichworte lieferte.
Struppe hatte die Ausschreitungen von seinem Balkon im fünften Stock aus beobachtet, mit einem Gefühl der Ohnmacht, behauptete er. Was hätte er allein schon ausrichten können? "Wer hat bei solchen Zuständen schon das Zeug zum Helden", fragte er und sagte leise: "Ich nicht."
Das Verbrechen sei nicht in Lichtenhagen, sondern in den Amtsstuben ausgeheckt worden, sagte Hagen und zitierte bebend aus Schillers "Glocke": „Weh denen, die dem Ewigblinden des Lichtes Himmelsfackel leihn. Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden, und äschert Städt’ und Länder ein.“ Als das Kampfgeschehen unten auf der Wiese eskalierte, brachte Hagen erst einmal sein Auto in Sicherheit.
Ein Traum von Utopia
Dass Lichtenhagen einmal zum Inbegriff einer gescheiterten Vorstadt werden sollte, wäre Christoph Weinhold nie in den Sinn gekommen. Weinhold, heute 74 Jahre alt, fiel das Gehen mittlerweile schwer. Trotzdem führte er mich an einem nasskalten Februarabend über den Brink.
Er erzählte mir von den Anfängen: wie er als Architekturstudent aus Sachsen nach Rostock gekommen war. Sich erst in eine Frau, dann in die spröde Landschaft Mecklenburgs verguckt hatte. Christoph Weinhold landete bei den Stadtplanern, dort ließen sie den jungen Mann machen, den die radikalen urbanen Utopien von Oscar Niemeyer und Le Corbusier faszinierten: Wohnhäuser waren pure Funktion, Wohnmaschinen ohne Ornamente.
Ab den 1950er Jahren hatte die DDR eine Handelsflotte aufgebaut. Am Überseehafen und in den Werften wuchs der Bedarf an Arbeitskräften. Neun Stadtteile mit Zehntausenden Wohnungen wurden in industrieller Fertigbauweise hochgezogen. Der neue Stadtteil Lichtenhagen, den Weinhold mit seinen Kollegen plante, sollte eine lebenswerte Heimat für etwa 22.000 Menschen werden.
1974 zogen die ersten Bewohner ein. Dass der Stadtteil noch eine Großbaustelle war, auf der sie noch Monate den Arbeitsweg zur S-Bahn in Gummistiefeln zurücklegen mussten, störte die Neuankömmlinge nicht. Ihre Wohnungen hatten Fernheizung, Bad und fließendes warmes Wasser, während viele Altbauten in der im Krieg zerbombten Innenstadt verfielen. Nach den Plänen der Partei sollte Rostock das "Tor zur Welt" werden. Später ging es abwärts.
Christoph Weinhold zeigte mir die Stelle auf dem Brink, an der sich einmal das mondäne Café Möweneck befand, das nach der Wende abgerissen wurde. Wo ein "Brunnen der Begegnung" gebaut werden sollte, dessen Pläne Anfang der 1990er in der Schublade verschwanden. Wo einmal eine Minigolfanlage war, für die sich schon zu DDR-Zeiten niemand fand, der am Wochenende Schläger und Bälle ausgab, ohne dafür Geld zu verlangen.
Als die Wirtschaft der DDR in die Knie ging und das Volk auf die Straße, um das System zu stürzen, änderte sich in Lichtenhagen alles.
Nach der Wiedervereinigung werden die aufgeblähten volkseigenen Betriebe Rostocks von der Treuhand abgewickelt. Die Lichtenhäger, eben noch Speerspitze des Sozialismus, leben nun plötzlich in einem Problembezirk mit vielen Arbeitslosen. Was sich dadurch bemerkbar macht, dass die Politik bei ihnen Probleme ablädt.
Im Dezember 1990 wird die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, die ZAst, im Sonnenblumenhaus eingerichtet, eine einzigartige Dummheit, findet Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter der Stadt. Im Sommer 1991 fertigt er einen Briefentwurf für den Rostocker Oberbürgermeister an, der an den Innenminister in Schwerin geschickt werden soll. Er schreibt, dass "gewalttätige Auseinandersetzungen bis hin zu Tötungsdelikten nicht auszuschließen sind".
Vor dem Sonnenblumenhaus prügeln sich zu dieser Zeit bereits deutsche Jugendliche mit Asylsuchenden. Ab Ostern 1992 stranden immer mehr rumänische Flüchtlinge vor dem Sonnenblumenhaus, weil sie in der ZAst nicht mehr registriert werden. Die Stadtverwaltung reagiert nicht auf den Wunsch der Anwohner, wenigstens mobile Toiletten aufzustellen. Die Presse schreibt von Flüchtlingen, die angeblich Möwen grillen.
Am Tag vor Beginn der Ausschreitungen veröffentlicht die "Ostsee-Zeitung" einen Bericht, in dem Lichtenhäger Jugendliche ankündigen, die Roma am Wochenende "aufzuklatschen". Dann fliegen Brandsätze in die zerborstenen Scheiben.
Die unsichtbaren Vietnamesen
An einem Samstagmittag im April 2017 war Nguyen Do Thinh wieder im brennenden Sonnenblumenhaus. Er saß in der Teeküche eines bereits zugesperrten Tabak- und Zeitschriftengeschäfts in Lichtenhagen, in dem er arbeitete, trank sein zweites Bier und erinnerte sich.
Er hört wieder die Beifall klatschende Menge, die Schreie: „Wir kriegen euch alle.“ Er spürt den Rauch in die oberen Stockwerke dringen. Er sieht eine Gestalt das Treppenhaus hinaufkommen, in die siebte Etage, in der sie sich verbarrikadiert haben. Wo sie in der Falle sitzen. Er überlegt kurz, ob er das könnte: einen anderen Menschen töten, bevor er getötet wird.
Es ist dann keine rechte Glatze, die aus dem Rauch vor Thinh auftaucht, sondern ein bekiffter Jugendlicher, der den Vietnamesen beistehen will. Ihn müssen sie auf ihrer Flucht vor den Flammen auch noch mitschleppen, neben zwei schwangeren Frauen und den Kindern. Wie sie es schaffen, die Stahltür zum Dach aufzubrechen, weiß Thinh bis heute nicht. Einige Bilder aus der Nacht des 24. August 1992 sind aus seinem Kopf gelöscht.
Thinh war einmal der einzige vietnamesische Vertragsarbeiter gewesen, der zu DDR-Zeiten in Rostock einen Meisterbrief machte. Nach dem Pogrom gründete er mit seinen Landsleuten den Begegnungsverein Diên Hông. Thinh wurde zu einer Stimme gegen Alltagsrassimus. Bald fühlte er sich wie ein Politiker. Dabei wäre er lieber Ingenieur geworden. "Du bist immer für alle anderen da, nur für deine Familie nicht", sagt seine Frau eines Tages zu Thinh. Die Ehe zerbrach.
Seit April 2017 arbeitete er in dem Tabak- und Zeitungsladen in Lichtenhagen, weil er Geld verdienen musste. Kam ein dummer Spruch, "Warum dauert das so lange? Kann der Vietnamese nicht rechnen?", überlegte er es sich zweimal, den Mann zur Rede zu stellen. Es waren doch auch Kunden.
In Rostock lautet ein Kompliment über die Vietnamesen: "Die siehst du gar nicht." Nguyen Do Thinh war im Begriff, wieder unsichtbar zu werden.
Die Entfremdete und der Polizist
Ich saß bei Rosemarie Melzer am Küchentisch. Ihr schossen augenblicklich Tränen in die Augen, wenn sie von den Kindern erzählte, die in der Feuernacht vor ihrer Tür stehen. Die Vietnamesen und ihre einheimischen Unterstützer laufen damals etwa hundert Meter über das Dach, brechen die Dachluke in der Mecklenburger Allee 15 auf und klingeln an den Türen der Hausbewohner.
Erst die Melzers in der untersten Etage lassen die verängstigten Frauen und ihre Kinder in ihre Wohnung. 1997 zogen die Melzers in ein Einfamilienhaus im benachbarten Dorf Elmenhorst, weil sie es in Lichtenhagen nicht mehr aushielten. Das Vertrauen in die Hausgemeinschaft war weg. In einem Fernsehbeitrag erkannte Melzer eine ehemalige Nachbarin wieder, die den Randalierern damals applaudiert hatte und sich nun als kritische Zeitzeugin präsentierte.
Manchmal, da träumt Rosemarie Melzer noch von der Schlacht vor ihrem Fenster und den Hubschraubern am Himmel. Nach Lichtenhagen fährt sie bis heute nur, wenn es nicht anders geht.
Ich fuhr nach Kiel zu Oliver Pohl, den sein Einsatz als Polizist in Lichtenhagen derart mitgenommen hatte, dass er kündigte und Krankenpfleger wurde. Pohl, 46, saß an einem Dienstagabend im März 2017 in einem Studentencafé in der Kieler Innenstadt und erinnerte sich noch genau, wo ihn damals der Anruf erreichte: Er spielt an dem Montagabend gerade Theater in Mölln.
Gegen 22 Uhr fährt Pohl mit seinem roten Polo Fox die Auffahrt hoch, als ihm seine Schwiegermutter entgegengelaufen kommt: "Du musst sofort in die Kaserne." Pohl ist zu dieser Zeit ein 21-jähriger Beamter beim Bundesgrenzschutz in Schleswig-Holstein. Er ist im Nahkampf ausgebildet, verheiratet und hat eine vier Wochen alte Tochter, Merle-Marie.
Pohl kennt die entfesselte Gewalt auf deutschen Straßen: Er hat den Häuserkampf zwischen Hausbesetzern und der Polizei in Hamburg und Berlin miterlebt, war bei Einsätzen gegen Hooligans im Osten und bei den rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991 dabei.
Doch etwas ist anders in der Nacht von Lichtenhagen: Pohl erinnerte sich an die Hektik in der Kaserne, an das Briefing, in dem von "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" die Rede ist. An die Kälte auf dem Flug von Lübeck-Blankensee nach Rostock. Im Hubschrauber denkt Pohl an seine schlafende Tochter. Es sind die Minuten, in denen sein Trauma beginnt, glaubt er heute. Die Vietnamesen um Nguyen Do Thinh sind bereits mit Bussen weggebracht worden, als Pohl sich in die Polizeikette vor dem Sonnenblumenhaus einreiht.
Steine regnen auf die Polizisten ein, sie kauern hinter ihren Schilden. Im Nahkampf mit hasserfüllten Männern, die nicht älter sind als er, geht Pohls Schlagstock zu Bruch. Was ihn aber am meisten aus dem Konzept bringt, sind die Menschen hinter ihm. Anwohner auf den Balkonen des Sonnenblumenhauses stacheln die Meute an.
Bei dem Polizeieinsatz geht fast alles schief. Der Einsatzleiter fordert zu spät Verstärkung an, weil er denkt, "am Montag gehen die Randalierer wieder arbeiten", wie er das aus Westdeutschland gewohnt ist. Warum sich aber zwei Hamburger Hundertschaften in der Brandnacht vom Sonnenblumenhaus zurückziehen, ohne dass frische Einheiten bereitstehen, kann er auch heute noch nicht erklären.
Ein einheimischer Polizist, der in diesen Nächten ebenfalls in Lichtenhagen im Einsatz ist, kam der Wahrheit wohl am nächsten, als er mir sagte: "Wir haben alle deutsch gesprochen, doch wir haben uns nicht verstanden." Doch viele Lichtenhäger wollten nach all den Enttäuschungen der Wendejahre lieber an eine politische Verschwörung glauben.
Oliver Pohl bleibt drei weitere Tage in Lichtenhagen, bis die Ausschreitungen abebben. In seiner Einheit wird danach kein Wort über den Einsatz gesprochen.
Die Belastungsstörung kommt bei Pohl in den folgenden Wochen. Nachts schreckt er hoch, hört die Schreie der Angreifer aus Lichtenhagen, hat Herzrasen, Schweißausbrüche. Pohl schlittert in eine Sinnkrise, doch beim Arbeitsamt raten sie ihm davon ab, sein Beamtenverhältnis zu beenden.
In sein Tagebuch schreibt er: "Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße mit Helm drauf." An der Abendschule belegt er Kurse in Psychologie und Pädagogik, dann kündigt er doch beim Bundesgrenzschutz.
Pohl machte danach eine Ausbildung zum Krankenpfleger und Rettungssanitäter. Vier Jahre arbeitete er im Krankenhaus, ehe er in seinen alten Beruf zurückkehrte und Kriminalbeamter wurde. Seine Tochter Merle-Marie ist mittlerweile selbst Mutter.
Und Pohl arbeitet an einem Lesetheaterstück für Schulen, in dem er von einer Vietnamesin aus dem Sonnenblumenhaus vor dem Ertrinken gerettet wird. Einen Einsatz wei in Lichtenhange hat er nie wieder erlebt.
Tränen der Befreiung
Etwa vier Stunden nachdem der Polizist Oliver Pohl nach seinem Einsatz entkräftet in einer Rostocker Schulturnhalle einschläft, steht Mai-Phuong Kollath im Erdgeschoss des Sonnenblumenhauses, in dem noch kalter Brandgeruch hängt.
"Als ich realisiert habe, dass meine Landsleute fort sind, habe ich beschlossen, ein politischer Mensch zu werden", erzählte Kollath mir an einem Montag im März 2017 in einem schmucklosen Café im Berliner Stadtteil Treptow. Seit Herbst 2016 spielt die 54-jährige Vietnamesin sich selbst auf der Bühne des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Vordergründig geht es in dem Stück um weibliche Biografien im Kommunismus; als ehemalige Vertragsarbeiterin spielt sie eine der Rollen. Für Kollath werden die Theaterabende zur Selbstentfesselung.
Zu DDR-Zeiten hat sie zehn Jahre im Wohnheim im Sonnenblumenhaus gewohnt und in einer Großküche für Rostocker Hafenarbeiter gearbeitet. Ihre Schwangerschaft musste sie bis zum siebten Monat geheim halten, damit sie nicht zur Abtreibung gezwungen werden konnte. Dann zahlten sie und ihr deutscher Mann 8060 Ostmark Vertragsstrafe an die vietnamesische Botschaft; daraufhin konnte Mai-Phuong Kollath in Deutschland bleiben.
Im Sommer 1992 eröffnet das Paar ein Lokal auf einem Campingplatz bei Rostock, das immer wieder von einer Gruppe Neonazis heimgesucht wird, die ihr eigenes Bier mitbringen und ausländerfeindliche Parolen grölen. Schon damals macht Kollath die Erfahrung, dass ihre Gäste wegschauen. Doch erst nach den Ausschreitungen in Lichtenhagen begreift sie, dass sich der Hass auch gegen sie richtet.
Auf der Bühne des Gorki-Theaters bricht Kollath jetzt jedes Mal in Tränen aus, wenn sie ihre Lichtenhagen-Szene spielt. Doch es sind Tränen der Befreiung. "Ich hatte lange so viel unterdrückte Wut in mir, die ich nicht herauslassen konnte", erzählte Kollath, die mittlerweile als interkulturelle Beraterin in Berlin arbeitet. Dass sich viele ihrer Landsleute aus Lichtenhagen bis heute schämen, Deutschland Kummer bereitet zu haben, macht sie immer noch traurig. Gibt es diese Scham auch auf der anderen Seite?
Der Mob
Wolfgang Richter, der ehemalige Ausländerbeauftragte, der in der Nacht der Anschläge mit den Vietnamesen im Sonnenblumenhaus eingeschlossen war, spricht sich seit Jahren dafür aus, den Pogrom als hiesige Schuld anzuerkennen. In Lichtenhagen ist er daher nicht gerade beliebt.
Als im September 2015 wieder Flüchtlinge nach Rostock kommen, zeigt die Stadt ein freundliches Gesicht. Weil die Verwaltung nicht darauf vorbereitet ist, plötzlich Nadelöhr auf der Flüchtlingsroute nach Schweden zu sein, koordinieren das linke Jugendalternativzentrum und die eigens gegründete Initiative "Rostock hilft" monatelang die Unterbringung und die Weiterfahrt der Flüchtlinge mit Fähren.
Das bürgerschaftliche Engagement ist auch eine Antwort auf die Wunde von Lichtenhagen, sagten die Flüchtlingshelfer, mit denen ich sprach. Doch unter "Nie wieder!" verstanden einige in den Rostocker Plattenbauvierteln etwas anderes: Sie wollten keine Fremden vor ihrer Tür haben.
In Evershagen tagte an einem Dienstagabend im Januar 2017 der Ortsbeirat im Mehrgenerationenhaus. Mit Widerstand war zu rechnen. Auch in Evershagen, einige Straßenbahnstationen von Lichtenhagen entfernt, steht ein Sonnenblumenhaus. Hier hat Joachim Gauck zu DDR-Zeiten als Pastor gewirkt. Hier wohnt das Flüchtlingsmädchen Reem Sahwil, das 2015 berühmt wird, weil Angela Merkel es bei einem Bürgerdialog zum Weinen bringt.
Der Islamische Bund wollte ein ehemaliges Kaffeehaus im Wohngebiet kaufen, um es als Gebetsraum zu nutzen. Die muslimische Gemeinde war deutlich gewachsen, seit im Herbst 2015 Flüchtlinge nach Rostock gekommen waren. Viele Gläubige mussten seitdem im Freien beten, weil im Gebetsraum, einer Baracke in der Nähe des Rostocker Hauptbahnhofs, nicht genug Platz war.
Doch die Sitzung hatte kaum begonnen, da ging der Tagesordnungspunkt in wüsten Pöbeleien von etwa hundert Anwesenden unter. Bei einer zweiten Sitzung einen Monat später sind die Störer wieder da. Ein Mann von der AfD sitzt in der ersten Reihe und fordert einen Bürgerentscheid. Hinten stehen Männer mit kurzen Haaren und schwarzen Anoraks. Sie hetzen völlig ungeniert: "Wir wollen die Scheiße nicht." "Die sehen schon anders aus, das ist das Problem." "Warum wird das nicht im Wald gebaut? Buchenwald." "Ich krieg die alle unter im Krematorium."
Eine Frau mit kurzen roten Haaren zischt: "Dann bekommen wir wieder Zustände wie in Lichtenhagen. Und das will doch keiner." Nie wieder. Zwei Wochen später wird die Tür des leer stehenden Gebäudes nachts mit Kreuzen beschmiert. Bei Facebook schreibt ein User: "Am besten anzünden."
Die Drohung mit einem „neuen Lichtenhagen“ gehört in rechten Kreisen zum Standardrepertoire. Und die Einschüchterung funktioniert: Als 2011 in Evershagen ein interkultureller Garten entstehen soll, wird eine Unterschriftenliste gegen das Projekt herumgereicht, Anwohner stürmen die Ortsbeiratssitzung. Am Ende stimmen die ehrenamtlichen Politiker gegen den Garten.
In Groß Klein, dem Nachbarstadtteil von Lichtenhagen, stehen sich im Sommer 2016 rechte Gruppen und Gegendemonstranten vor einer Betreuungseinrichtung für minderjährige Flüchtlinge gegenüber. Die Stimmung ist aufgeheizt, Rostocks Sozialsenator lässt die Jugendlichen auf andere Häuser verteilen. Für Rostocks rechtsextreme Szene ist es ein Erfolg.
An einem Samstag im April veranstalteten Rostocker Vereine ein "Frühlingsfest der Kulturen". Die Ortsbeiräte waren gekommen und die Freiwillige Feuerwehr. Syrische Frauen hatten gebacken, ihre Kinder spielten auf der Wiese. Mit allzu vielen Besuchern aus Lichtenhagen hatten die Ortsbeiräte ohnehin nicht gerechnet; sie wussten, wie reserviert die Stimmung gegenüber Flüchtlingen war.
Dass am Ende aber gar niemand zu dem Fest kam, trotz all der Flugblätter, die sie im Wohngebiet in die Briefkästen gesteckt hatten, das wurmte Rainer Fabian, den Leiter des Begegnungszentrums, dann doch. Stattdessen hatte er wegen des Flugblatts am darauffolgenden Montag eine Unterlassungserklärung im Briefkasten, weil ein Anwohner schon das Flugblatt als Belästigung empfand.
Die Bilanz nach drei Monaten
Vielleicht war es ein Zeichen, dass es in den drei Monaten in Rostock zwar Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge gab, jedoch nicht im Stadtteil Lichtenhagen. Dort lernten nun auch die ersten syrischen Kinder an der Hundertwasser-Gesamtschule Deutsch.
Wandel braucht Zeit, heißt es. Für einen Ort, der so lange im Gestern festhing, war es wohl schwer, Fremde auch als Bereicherung zu sehen. Sicher war es gut, dass der Brink saniert wurde. Vielleicht würde er den Lichtenhägern das Gefühl zurückbringen, dass sie nicht bloß eine Rolle spielten, wenn es darum ging, sich für sie zu schämen.
CHRISTOPH DORNER wäre am Ende gern noch länger in Lichtenhagen geblieben: Er hatte seine Joggingstrecke entlang der Ostsee lieb gewonnen. Für die Fotografinnen BIRTE KAUFMANN und INA SCHOENENBURG lag die Herausforderung darin, die Schönheit des Stadtteils hinter all seinen Plattenbauten zu suchen.
Dieser Artikel stammt aus "GEO Nr. 08/2017 - das Lob der Unvernunft." Das Magazin können Sie bequem im GEO-Shop online bestellen.