Es sind gute Weinjahre: 1934 und 1935 stimmt das Wetter. Die Erträge der Weinlese erreichen in der Pfalz Spitzenwerte: Der Gesamtertrag liegt mit jeweils über eine Million Hektoliter mehr als doppelt so hoch wie 1932. Der 1935er Jahrgang, zeittypisch auf den Namen "Rassereiner" getauft, ist auch von sehr guter Qualität. Doch trotz niedriger Preise werden die Winzer ihn nicht los.
Die Weinbauern sind wirtschaftlich schwer angeschlagen. Nicht nur liegen schwierige Jahre hinter ihnen: Die Weltwirtschaftskrise von 1929 traf die Region besonders hart und die französische Besatzung, Folge des Versailler Vertrags nach dem Ersten Weltkrieg, hat den Weinhandel erschwert. Es ist zudem die aktuelle Politik, die die Wirtschaftslage der Winzer bedroht.
Denn die Nationalsozialisten ruinieren die zahlreichen jüdischen Weinhändler in der Pfalz. Ihre Firmen sind seit 1933 Boykotten und Schikanen ausgesetzt, das Fortführen ihrer Geschäfte wird ihnen unmöglich gemacht. Der Gauleiter der Pfalz, Josef Bürckel, ein überzeugter Antisemit, hat ein frühes Konzentrationslager in einer ehemaligen Kaserne einrichten lassen. Dort sitzt etwa der jüdische Weinhändler David Dornberger aus Bad Dürkheim fest. Vielen jüdischen Unternehmern bleibt nur das Exil, so gehen die Gebrüder Rosenstiehl aus Neustadt nach England. Sie gehörten zu den Großen im Handel mit pfälzischem Wein. Doch ohne diese Firmen bricht der Handel und der Export zusammen.
Es braucht einen Marketingcoup. Im Juli 1935 sitzen mehrere Honoratioren rund um Gauleiter Bürckel im Gasthaus "Zum Bayrischen Jäger" im Dörfchen Schweigen bei einem guten Tropfen zusammen. Sie wollen eine Idee umsetzen, die schon länger in der Schublade liegt: eine Weinwerbestraße. Unter diesem Banner sollen die Winzer gemeinsam ihre Weine vermarkten. Und weil es den Herren nicht an Selbstbewusstsein mangelt, nennen sie diese Route, die durch ihre Städtchen führen soll, vollmundig "Deutsche Weinstraße". Das wird, so hoffen sie, den Fremdenverkehr und den Verkauf der pfälzischen Weine ankurbeln.
Bereits am 19. Oktober verkündet der Gauleiter Josef Bürckel, seit 1925 Mitglied der NSDAP, in Bad Dürkheim feierlich die Eröffnung der "Deutschen Weinstraße". Parallel zum Haardt-Gebirge verläuft sie rund 85 Kilometer Richtung Norden von Schweigen über Neustadt, Deidesheim und Bad Dürkheim bis Bockenheim in der Nähe von Worms. Nach dem Festakt nippen sich die Ehrengäste auf einer großen Weinprobe durch 40 Sorten, beliebt sind die Weißweine Riesling, Müller-Thurgau oder der Rotwein Blauer Portugieser. Am Folgetag durchschneidet Bürckel dann in Schweigen eine Rebengirlande und ein Autokorso aus 300 Wagen fährt die Weinstraße Richtung Norden entlang, in jedem Weiler begrüßt von freudigen Menschenmengen, wehenden Hakenkreuzfahnen, Musik und Umzügen. Ein erfolgreicher Auftakt.
Zusammen mit dem 1929 erstmals ausgerichteten Deutschen Weinlesefest in Neustadt auf dem seit 1931 auch eine Weinkönigin gekürt wird, entsteht damit in diesen Jahren alles, was es für den modernen Tourismus braucht.
Den Absatz des Weins sichern kurz darauf Patenschaften: Mehrere deutsche Städte wie Nürnberg und München verpflichten sich, bei offiziellen Anlässen nur noch pfälzische Weine auszuschenken und das nationalsozialistische Erholungsprogramm "Kraft durch Freude" karrt bald regelmäßig Reisende durch die Weinberge. Wein aus der Pfalz wird schnell zum Markenprodukt und die Pfalz als Weinanbaugebiet bekannt.
Davon profitiert die Region bis heute: Die Pfalz ist mit rund 23000 Hektar Fläche nach Rheinhessen das zweitgrößte der 13 deutschen Anbaugebiete. Vor allem die Weißweine Riesling, Grau- und Weißburgunder aus der Region sind beliebt. Auch der Fremdenverkehr floriert, allein 2024 haben rund 105.000 Touristen Neustadt an der Weinstraße besucht. Nur wenigen ist wohl bewusst, dass der Ort den Zusatz "an der Weinstraße" den Nationalsozialisten zu verdanken hat.
Tipp: Die App "Alternative Weinstraße" informiert über die Geschehnisse an der "Deutschen Weinstraße" in der NS-Zeit.