In einer verträumten Kleinstadt am Lago Maggiore hat es begonnen, in der Weltmetropole wird es vollendet. Anfang Dezember 1925 unterzeichnen die europäischen Staatschefs in London, was sie zuvor im schweizerischen Locarno in intensiven Gesprächen ausgetüftelt haben. Einen Triumph der Kommunikation und Diplomatie. Sieben Jahre nach dem Blutbad des Ersten Weltkriegs entwerfen die Vertreter von Großbritannien, Frankreich, Polen, Italien, Belgien, der Tschechoslowakei und Deutschland eine neue Bündnisordnung für den Kontinent.
Die historischen Verträge von Locarno bedeuten vor allem für das Deutsche Reich einen enormen Erfolg, eine Zeitenwende. Denn zuvor ist das Land eine Art Aussätziger der internationalen Politik. Vom Versailler Vertrag, der den Weltkrieg 1919 abgeschlossen hat, zum alleinigen Kriegsschuldigen bestimmt, wirtschaftlich hart gebeutelt, innenpolitisch tief zerrissen und außenpolitisch isoliert, strauchelt die Weimarer Republik, Deutschlands erste Demokratie, durch ihre Anfangsjahre.
Ein "Geist" für eine friedlichere Welt
Doch nun gibt es die Gespräche von Locarno, bei denen vor allem der deutsche Außenminister Gustav Stresemann sehr geschickt und vertrauensvoll agiert. Am Ende der Verhandlungen, die eine für die meisten Beobachter überraschende Einigung erbringen, stehen Vereinbarungen mit großer Tragweite: Deutschland erkennt seine nach dem Krieg neu gezogene Westgrenze (und damit den Verlust Elsass-Lothringens) unwiderruflich an, Frankreich, Belgien und das Deutsche Reich versprechen einander zudem den Verzicht jeglicher militärischer Aggression. Ein Geflecht von Garantien anderer Mächte schützt diese Absprachen. Im Osten behält sich Deutschland zwar eine Abänderung des Grenzverlaufs vor, aber sowohl dort wie im Westen sollen Schiedsinstanzen und Kommissionen alle aufkommenden Streitfragen lösen – friedlich. Der vielbeschworene "Geist von Locarno" setzt eindrucksvoll auf gewaltfreie Verständigung, auf Versöhnung.
Es ist damit auch das große Wiedereintreten Deutschlands in den Kreis der respektablen Nationen, eine beispiellose außenpolitische Aufwertung für die junge Demokratie. Ein Jahr später wird das Land Mitglied des Völkerbundes, der Vorläufer-Organisation der Vereinten Nationen. Die neue Umarmung hilft auch dabei, die drückenden Reparationszahlungen, die Deutschland zu leisten hat, weiter zu senken, ebenfalls ziehen die alliierten Besatzungstruppen im Rheinland, seit dem Krieg dort stationiert, nun schneller ab als geplant.
Absolut preiswürdig
Weimar atmet auf, die Wirtschaft zieht zeitgeich an, und die Goldenen Zwanziger können ihren ganzen Glanz entfalten. Noch 1926 ehrt das zuständige Komitee die beiden zentralen Beteiligten von Locarno, Stresemann und den französischen Außenminister Aristide Briand, mit dem Friedensnobelpreis. Die Vertreter der alten "Erbfeinde", vereint als gefeierte Laureaten. Briand ist so inspiriert von all dem, dass er kurz darauf sogar die Idee von den "Vereinigten Staaten von Europa" entwirft.
Doch es kommt anders. Schon von Beginn an hatte die radikale und nationale Rechte in Deutschland gegen die Abkommen agitiert, sie als untragbare Zugeständnisse an die einstigen Gegner bezeichnet, als Verrat am Vaterland. Auch bei der linken KPD waren die Verträge aus anderen Gründen unbeliebt. Nach 1933 dann bricht Diktator Adolf Hitler systematisch die Bestimmungen und den Geist von Locarno. Er will Krieg. 1936 lässt er deutsche Truppen das entmilitarisierte Rheinland besetzen. Und zersprengt bald darauf jegliche Friedensordnung.
Die Wende von Locarno im Jahr 1925, sie war zukunftsweisend und vielversprechend. Aber von Dauer war sie nicht. Als historischer Anknüpfungspunkt für den Sieg der Kommunikation allerdings dient sie noch immer.