Viele Schurken der Geschichte sind oft bloß Akteure eines Dramas, dessen Zusammenhänge sie nicht kennen. Die Geschichte, wie Europa in den Ersten Weltkrieg taumelt, ist der Archetyp einer solchen Tragödie mit Versagern, Bösewichten – und keinem einzigen Helden.
Seit fast 100 Jahren bemühen sich Historiker, den Hauptverantwortlichen für die Eskalation der damaligen Ereignisse zu benennen, und finden ihn mal in Berlin oder Wien, in Paris oder Sankt Petersburg. Doch manche Regierungsdokumente sind verschollen, und Wissenschaftler können bloß spekulieren, warum das so ist. Was an Akten noch existiert, wurde meist längst ausgewertet. Längst auch sind alle Zeitzeugen verstorben.
Obwohl also schon lange kaum mehr neue Fakten auftauchen, bleibt die Interpretation der bekannten Informationen bis heute umstritten. Zu kompliziert war die diplomatische Situation 1914, zu verwirrend waren die Motive der Akteure.
Sicher ist nur, dass das millionenfache Sterben mit einem Doppelmord begann.
Zwei Kugeln verändern den Lauf des 20. Jahrhunderts
Sonntag, 28. Juni 1914. Sarajevo. Erzherzog Franz Ferdinand, der Thronfolger Österreich-Ungarns, sitzt gegen 11.00 Uhr neben seiner Frau Sophie in einem Cabriolet. Das Auto ist das dritte einer Kolonne, die den Habsburger durch die Balkanstadt geleitet, auf dem Weg vom Rathaus zum Garnisonskrankenhaus.
Sarajevo gehört, wie ganz Bosnien und die Herzegowina, seit 1908 zur Doppelmonarchie. Ein Dutzend Völker sind dem Kaiser in Wien untertan, und die meisten sind es nicht gern. Vor allem die Serben, die in Bosnien fast die Hälfte der Bevölkerung stellen, würden lieber zum östlich der Drina liegenden unabhängigen Königreich Serbien gehören.
Franz Ferdinand hat allen Grund, sich zu fürchten: Bereits am Morgen dieses Tages, kurz nach 10.00 Uhr, haben Serben auf dem Hinweg zum Rathaus ein Bombenattentat auf ihn verübt, das er bis auf eine kleine Schramme unverletzt überstanden hat. Täter waren Extremisten, die in Serbiens Hauptstadt Belgrad in Kontakt mit Geheimorganisationen standen, dort ausgebildet, mit Waffen versehen und über die Grenze geschmuggelt worden sind. Ein Attentäter ist sofort nach dem gescheiterten Anschlag verhaftet worden. Aber wer kann sagen, ob nicht noch weitere lauern?
Also steuert der Chauffeur das Cabriolet nun mit hoher Geschwindigkeit. Doch den Fahrern der Eskorte unterläuft ein grotesker Fehler: Anstatt auf der Hauptstraße zu bleiben, wie nach dem ersten Zwischenfall besprochen, folgen die Wagen der ursprünglich geplanten Route und biegen in die falsche Straße ein. Noch in der Kurve stoppt der Fahrer des Thronfolgers den Wagen vor etlichen Schaulustigen, um den Rückwärtsgang einzulegen.
In der Menge hält sich der 19 Jahre alte bosnisch-serbische Student Gavrilo Princip verborgen, der zur serbischen Terrorgruppe gehört. Durch den Fehler des Chauffeurs kommt der Wagen des Erzherzogs nur zweieinhalb Meter vor dem Bewaffneten zum Stehen.