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Nationalsozialismus Nürnberger Prozesse: Als das "Dritte Reich" vor Gericht steht

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Vor 80 Jahren, am 20. November 1945, beginnen die Nürnberger Prozesse. Vor aller Augen klagen die Siegermächte NS-Verbrecher an – nicht aus Rache, sondern um der Gerechtigkeit willen
Nürnberger Prozesse
Im Schwurgerichtssaal 600 zu Nürnberg sitzen die Richter aus den Reihen der Siegermächte den Angeklagten direkt gegenüber: Ihnen entgeht keine Regung der NS-Größen
© mauritius images / Keystone Press / Alamy

Seit Wochen haben sie sich auf den Tag vorbereitet, an dem das Weltgericht beginnt. Haben in den alten Gerichtssaal einen Balkon für rund 130 Zuschauer eingezogen – und mit beschlagnahmten Klappstühlen aus einem Theater bestückt. Haben aus den USA eine moderne Dolmetscher-Anlage von IBM einfliegen lassen, damit jeder im Raum über Kopfhörer die Worte der Simultan-­übersetzer verfolgen kann.

In sechs Meter Höhe unter der Decke haben die amerikanischen Besatzungsbehörden große Fenster in die Wand eingebaut, dahinter Kabinen, aus denen Radio­reporter live berichten und Fotografen Bilder machen können. Denn die ganze Welt soll das unerhört Neue mit­erleben, das hier in Nürnberg geschieht: Zum ersten Mal in der Geschichte müssen sich Staatsführer und hoch­rangige Militärs für ihre Verbrechen vor einem Gericht verantworten – werden behandelt wie gewöhnliche ­Kriminelle.

Es ist Dienstag, der 20. November 1945. Ein Gemurmel aus Hunderten Stimmen bricht sich an den holz­getäfelten Wänden des Schwurgerichtssaals 600 im zweiten Stock des Nürnberger Justizpalastes – dem größten Raum im gesamten Gebäude. Die Richterbank an der Stirnseite des Raumes, unter den mit grünen Stoffbahnen verhängten Fenstern, ist noch leer. Aber in der Mitte des Saales, wo braune Tische und Stühle so dicht stehen wie in einer Schulklasse, sitzen Verteidiger in Anzügen oder schwarzen Talaren, Protokollführer halten Blöcke und Bleistifte gezückt oder probieren ihre modernen Stenographiermaschinen aus.

Auf der Pressetribüne, von der Richterbank aus gesehen links, drängen sich 250 Journalisten, unterhalten sich gedämpft auf Russisch, Portugiesisch und Englisch – selbst aus Indien und Brasilien sind Reporter gekommen. Über ihnen der ebenfalls voll besetzte Besucher­balkon, manche Zuschauer halten noch die ockergelben Eintrittsbillets in der Hand. Deutsche sieht man hier oben kaum – wohl auch aus Angst vor Attentaten hartnäckiger Hitler-Anhänger haben die amerikanischen Militärpolizisten kaum Einheimische ins Gericht gelassen.