Versailler Vertrag Ende des Kolonialreichs: Der geplatzte Traum

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Sitzung im französischen Außenministerium in Paris
Monatelang beraten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, hier eine Sitzung im französischen Außenministerium in Paris, über die Neuordnung Europas und der Kolonien in Übersee
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Der Erste Weltkrieg erfasst auch die Kolonien. Bald verliert Berlin ein Überseegebiet nach dem anderen. Bis der Frieden von Versailles dem deutschen Kolonialreich ein Ende bereitet

Es wird still im Spiegelsaal, als die Deutschen durch eine Seitentür eintreten. Außenminister Hermann Müller und Reichsverkehrsminister Johannes Bell tragen schwarze Anzüge, wie zu einer Beerdigung. Hunderte Menschen drängen sich auf dem Holzparkett: Diplomaten, Staatschefs, Journalisten, Militärs. Alle versuchen, einen Blick auf die deutschen Delegierten zu erhaschen, die für eine so undankbare Aufgabe nach Versailles gekommen sind.

Der Ort für die Zeremonie ist mit Bedacht gewählt. 1871 hatte sich Kaiser Wilhelm I. nach dem siegreichen Waffengang gegen das Nachbarland in ebenjener "Galerie des Glaces" mit den 17 Prachtspiegeln, unter Golddekor und Deckenmalereien zum "Deutschen Kaiser" ausrufen lassen. In einer Geste arroganten Triumphes, mitten im einstigen Machtzentrum Frankreichs, im Herzen des Schlosses von Versailles nahe Paris. Jetzt, im Jahr 1919, ist es an den Franzosen, hier den Triumph auszukosten.

Minister Müller, SPD, und Bell vom katholischen Zentrum treten an einen hufeisenförmigen Tisch und holen ihre Füllfederhalter heraus. Vor ihnen liegt eine Abschrift des Versailler Vertrags, jenes Dokuments, das den Ersten Weltkrieg offiziell beenden soll. Die Füller kratzen über das Papier, Müller und Bell drücken Siegel in flüssiges Wachs. US-Präsident Woodrow Wilson und die Regierungschefs der anderen Siegermächte unterschreiben ebenfalls, dann donnern Kanonensalven und Salutschüsse vor dem Schloss. Die Deutschen verschwinden durch einen Seitenausgang, eilen zum Bahnhof und besteigen den Nachtzug Richtung Berlin.

1914 träumt man im Kaiserreich von neuen kolonialen Eroberungen

Mit dem an diesem 28. Juni 1919 unterzeichneten Vertrag übernimmt Deutschland die alleinige Kriegsschuld und tritt große Teile seines Staatsgebiets in Europa ab, etwa Westpreußen und Elsass-Lothringen. Doch mehr noch: Zugleich gibt das Kaiserreich alle "überseeischen Besitzungen" auf. Per Federstrich hat das Land seinen Status als Kolonial- und Weltmacht verloren. Neben dem abgerungenen Kriegsschuldbekenntnis bedeutet dieser Verlust für die Deutschen eine zweite Demütigung. Viele fühlen sich zu Unrecht aus dem Kreis jener Staaten verstoßen, die wie selbstverständlich über weite Teile der Welt gebieten. Und so wird sich im Land bald Trotz breitmachen, selbst unter den einstigen Kritikern des Kolonialismus.

Zu Beginn des Krieges hatte sich Berlin noch anderes erhofft. 1914 träumt man im Kaiserreich von neuen kolonialen Eroberungen, etwa von einem Riesenstaat in Afrika, der vom heutigen Tansania am Indischen Ozean bis zum Senegal am Atlantik reicht. In den deutschen Überseegebieten sind zu dieser Zeit jedoch insgesamt nur einige Tausend Soldaten stationiert, die von lokalen Einheiten mit alten Gewehren und wenigen Geschützen unterstützt werden. Alfred von Tirpitz, als Großadmiral Chef der deutschen Marine, will die Kolonien "in der Nordsee", also indirekt durch einen Erfolg in Europa, verteidigen. Die Verbände in Übersee überlässt man weitgehend sich selbst.

Deutsche Briefmarke der Kolonie Togo in rosa
Mit Unterzeichnung des Friedensvertrags im Juni 1919 übernimmt Deutschland die alleinige Schuld an dem Weltenbrand und akzeptiert zugleich den Verlust all seiner Besitzungen. Oben: eine deutsche Briefmarke der Kolonie Togo mit Aufdruck nach der Besetzung durch Briten und Franzosen
© Alamy / mauritius images

So müssen in Togo die 1500 Soldaten der deutschen Polizeitruppe schon Ende August 1914 kapitulieren, als britische und französische Kontingente von zwei Seiten vorrücken. Samoa und Neuguinea fallen Tage später in die Hände eines Expeditionskorps aus Australiern und Neuseeländern. In der Kolonie Kiautschou am Gelben Meer in China feuern die Deutschen mit Maschinengewehren und Granaten auf rund 60 000 Japaner, die an der Küste landen, wehren mehrere Angriffe ab, bis ihnen die Munition ausgeht. Im Juli 1915 kapituliert die Schutztruppe in Südwestafrika, dem heutigen Namibia, Anfang 1916 die in Kamerun.

Nur an einem Schauplatz halten die Deutschen verbissen an ihrem Überseebesitz fest. Paul von Lettow-Vorbeck, Kommandeur in Deutsch-Ostafrika, zieht sich auf eigene Initiative mit 800 Mann ins Buschland zurück. Ab 1915 führt er mithilfe afrikanischer Söldner dort einen Guerillakrieg gegen die Briten, greift Nachschublinien an, sprengt Züge und Brücken. 1917 wagen die Truppen sogar einen Angriff auf die britische Kolonie Nordrhodesien, auf dem Gebiet des heutigen Sambia. Lettow-Vorbeck ergibt sich erst am 25. November 1918, als der Krieg in Europa schon seit zwei Wochen vorbei ist und Kaiser Wilhelm II. im Sturm der Revolution abgedankt hat.

Ab Januar 1919 treffen sich bei Paris die Siegermächte, Delegierte aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Japan und vielen weiteren Staaten. Über Monate verhandeln sie ohne die Deutschen, ziehen Grenzen neu, in Europa, aber auch in den Kolonien. US-Präsident Woodrow Wilson will auch Berlins Interessen berücksichtigt wissen, denn in einem politisch und wirtschaftlich stabilen Deutschland sieht er den Schlüssel für einen langfristigen Frieden in Europa. Der britische Premier David Lloyd George und sein französischer Kollege Georges Clemenceau aber wittern die Chance, die Kolonialreiche ihrer Länder zu vergrößern. Auch Südafrika, Australien und Neuseeland, Mitglieder des British Empire, wollen für ihre Kriegsmühen belohnt werden.

Der Verlust der Kolonien ist für viele Deutsche eine Demütigung

Schon vor Ende des Krieges hat Lloyd George Argumente für seine Position ausarbeiten lassen. Beauftragte haben in den besetzten Kolonien Beweise für deutsche Kolonialverbrechen gesammelt. Vor allem in Südwestafrika trägt ein Offizier mit seinen Mitarbeitern akribisch Akten zusammen, befragt Bewohner. Auf Hunderten Seiten eines sogenannten Blaubuchs, ein damals gängiger Name für Berichte der britischen Regierung, dokumentiert er Gräueltaten der Deutschen, Auspeitschungen, willkürliche Hinrichtungen, den Völkermord an Herero und Nama. Lloyd George will US-Präsident Wilson mit diesem Papier davon überzeugen, dass Deutschland durch übermäßige Gewalt als "Zivilisationsmacht" versagt habe.

In Berlin zeigen sich Politiker aller Parteien empört, als bekannt wird, dass Deutschland seine Kolonien endgültig abtreten soll. Der ehemalige Gouverneur Deutsch-Ostafrikas, Heinrich Schnee, schimpft in einer Abhandlung über die "koloniale Schuldlüge"; die Deutschen seien nicht grausamer gewesen als andere Europäer. Das Auswärtige Amt gibt 1919 ein "Weißbuch" mit Belegen für britische Kolonialverbrechen heraus, um die eigenen Taten zu relativieren. Tatsächlich haben auch Briten, Franzosen und vor allem Belgier in ihren Kolonien mit teilweise extremer Gewalt geherrscht. Doch gerade die britische und amerikanische Öffentlichkeit ist nun von der besonderen Grausamkeit der Deutschen überzeugt.

Carl Peters

Deutsche Kolonie Die blutige Landnahme des Dr. Carl Peters

Erfüllt von dem Verlangen, in den Kreis der Weltmächte aufzuschließen, greift in den 1880er Jahren auch Deutschland nach Besitz in Übersee. Zu den brutalsten Pionieren zählt ein Pfarrerssohn aus Norddeutschland

US-Präsident Wilson willigt schließlich ein, Berlin mit dem Versailler Vertrag sämtliche Überseegebiete zu entziehen. Der provisorischen deutschen Regierung aus SPD und Zentrum bleibt angesichts der wirtschaftlichen und politischen Schwäche ihres Landes nichts anderes übrig, als das Abkommen zu akzeptieren. Außenminister Müller und Verkehrsminister Bell übernehmen die demütigende Aufgabe und reisen nach Versailles.

Noch bevor der Vertrag unterzeichnet ist, verteilen die Siegermächte die deutschen Kolonien: Japan erhält die Inseln in Mikronesien, Australien besetzt das deutsche Neuguinea, Neuseeland übernimmt Samoa. Frankreich, Großbritannien und Belgien teilen Togo, Kamerun und Deutsch-Ostafrika unter sich auf. Der von Wilson initiierte Völkerbund, ein Vorläufer der UN, stattet die Länder mit einer Art Vormundschaft, sogenannten Mandaten, aus. Die Europäer sollen die Gebiete verwalten, bis deren Bewohner "reif" für die Eigenständigkeit seien. In der Realität setzt sich so die Kolonialherrschaft fort.

Deutsche Soldaten liegend in hohem Gras
Deutsche Soldaten haben sich Anfang November 1914 unweit der Hafenstadt Tanga im heutigen Tansania positioniert. Unter dem Kommando von Paul von Lettow-Vorbeck kann sich die Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika als einzige Kolonialarmee des Kaiserreichs über Jahre während des Weltkriegs behaupten. Der Offizier ergibt sich erst Ende November 1918, als der Konflikt in Europa bereits beendet ist
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Im Deutschen Reich fällt es vielen Menschen schwer, den als erniedrigend empfundenen Friedensschluss zu akzeptieren. Vor allem die rechten Parteien geben der neuen demokratischen Regierung die Schuld an allen Folgen, weil sie dem Vertrag zugestimmt hat.

Und plötzlich wallt Nostalgie auf, wird die Weimarer Republik von einer Begeisterung für Überseegebiete erfasst, die die vorherige Unterstützung für das reale Kolonialreich zu übertreffen scheint. Selbst einige Abgeordnete der SPD und ihrer linken Abspaltung USPD, sonst skeptisch in diesen Fragen, fordern, die Kolonien durch Verhandlungen zurückzuerlangen, zumindest aber ein oder zwei Völkerbundmandate. Zwar wissen die meisten Politiker, dass sich der Staat Überseeterritorien gar nicht leisten könnte. Doch der Wunsch nach altem Prestige ist groß, gerade in Zeiten politischer Krisen.

Ehemalige Kolonialbeamte, Veteranen und Adelige organisieren sich in Vereinen, sprechen an Schulen. Postkarten, Fahrradwimpel und Bierdeckel werden mit kolonialen Motiven bedruckt. Paul von Lettow-Vorbeck, der als Kriegsheld verehrte einstige Kommandeur von Ostafrika, veröffentlicht 1920 das Abenteuerbuch "Heia Safari!", das in hunderttausendfacher Auflage die Jugend motivieren soll, weiter für die Kolonien zu kämpfen.

Und der Drang nach Expansion hält an. Ab 1924 fordert ein aufstrebender Politiker namens Adolf Hitler in seinen Reden neue Siedlungsgebiete, die allerdings vorerst nicht in Kamerun oder Samoa liegen sollen, sondern in Osteuropa. Dort wird Deutschland bald einen neuen Krieg beginnen, getrieben wie einst von imperialen Fantasien und Überlegenheitsdenken.

Erschienen in GEO Epoche Nr. 135 (2025)

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