Die Roben um ihre Schultern scheinen das Mädchen fast zu verschlingen. Ein Schleier schmückt ihren Kopf, darauf ein zartes Krönchen. Mit gesenktem Haupt kniet sie vor dem Bischof, der seinen Stab über sie hält. Er weiht das Mädchen feierlich zur Äbtissin: Mathilde von Quedlinburg wird das 11-jährige Kind von nun an heißen. Eigentlich müsste nur ein einziges Kirchenoberhaupt für die Zeremonie anwesend sein. Aber Mathildes Eltern, Kaiser Otto und seine Gemahlin Adelheid, haben die wichtigsten Größen des Landes eingeladen. Aufmerksam beobachten sie jedes Wort, jede Bewegung, jede Geste. Denn eines zeigt das Gemälde, das den Augenblick im Jahr 966 festhält und heute im Quedlinburger Rathaus hängt, ganz deutlich: Hier wird nicht einfach ein Mädchen ins Klosterstift abgeschoben. Die Weihe ist der Beginn von Mathildes Karriere, während der sie es bis zur Reichsverweserin bringen wird. Dieser Eintritt in die Welt der Kirche ist der Grundstein ihrer Macht.
Bis heute gilt das Mittelalter vielen als "dunkles Zeitalter", in dem das Leben schmutzig, brutal und kurz war – vor allem für Frauen. Lange ging man davon aus, dass Frauen damals vor allem eine Rolle hatten: als Gehilfin und Besitz des Mannes, früh verheiratet oder eben im Kloster geparkt.
Aber vieles, was wir über diese Epoche zu wissen glaubten, wird heute von der Geschichtswissenschaft völlig neu bewertet. Weil sie Quellen aufarbeitet, neue Technologien benutzt und ihre eigenen Annahmen hinterfragt. Und plötzlich ergibt sich ein ganz anderes Bild von der Macht der Frauen im Mittelalter.
Da ist die Kriegerin von Birka, die seit der Entdeckung ihres Grabes 1870 von der Wissenschaft stur für einen Mann gehalten wurde – bis fast 150 Jahre später eine DNA-Analyse ihr eigentliches Geschlecht bewies. Da sind die Pilgerinnen, die sich in den wilden Zeiten nach dem Auseinanderbrechen des weströmischen Reiches auf den Weg machten, das Christentum nördlich der Alpen zu verbreiten. Und während Otto der Große heute für fast jeden in Deutschland ein Begriff ist, wissen die wenigsten: Nach seinem Tod kümmerte sich das Dreiergespann aus Mathilde, ihrer Mutter Adelheid und Schwägerin Theophanu jahrelang um die Geschäfte des Kaiserreiches.
Mächtige Frauen im Mittelalter – so sieht sie die Wissenschaft
Darin ist sich die Geschichtsforschung heute einig: Frauen im Mittelalter besaßen mehr Macht, als wir es lange glaubten. Und sie hatten damals wohl deutlich mehr Einfluss als später in Reformation und Renaissance. Für die deutsche Historikerin Amalie Fößel begann die Diskriminierung von Frauen erst flächendeckend, als Universitäten und Staatsapparate entstanden – von deren Besuch beziehungsweise Ämtern sie ausgeschlossen wurden. Kein Wunder also, dass die Suffragetten – die britischen Frauenrechtlerinnen am Anfang des 20. Jahrhunderts –, für mittelalterliche Frauen schwärmten.
Der Weg zur Gleichberechtigung ist dann eben linearer, von Unfreiheit zu immer mehr Freiheit. Diese Vorstellung passt nur eben sehr gut in das Weltbild, das Europa seit der Aufklärung prägt: von einem vermeintlichen Barbarentum hin zu Vernunft und Zivilisation.
Janina Ramirez, eine bekannte Historikerin und Autorin aus Großbritannien, geht sogar noch weiter: Frauen seien systematisch aus der Geschichte herausgeschrieben worden. "Femina" heißt eines ihrer Bücher, und der Titel ist ein Beispiel für genau solches Unsichtbarmachen. Als Ramirez in den Tiefen der Archive recherchierte, begegnete ihr das Wort immer wieder auf Dokumenten aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, mitunter waren auch die Worte "Häresie", "Hexenwerk" oder "Unorthodox" daneben gekritzelt. Die Bibliothekare sortierten mit diesen Vermerken jene Werke aus, die ihnen der Bewahrung nicht wert schienen. Denn "Femina" bedeutete schlicht: von einer Frau geschrieben.
"Ich bin immer wieder erschrocken, auf wie viel Lüge und Manipulation unser Geschichtsverständnis basiert", sagt Ramirez im Gespräch mit der Unizeitung der Universität Oxford. Natürlich interpretiere jede Gegenwart ihre eigene Vergangenheit, das sei ein normaler, gesellschaftlicher Prozess. "Aber die Gelehrten des 19. Jahrhunderts haben sich schuldig gemacht." Denn sie hätten die Historie zu einer Geschichte weniger großer Männer umgeschrieben – und die Macht der Frauen verschwinden lassen.
Dabei waren die Frauen des Mittelalters alles andere als wehr- und mittellos. Sie waren Königinnen und Königmacherinnen und bekleideten hohe Ämter in der Kirche. Und auch das Leben nichtadeliger Frauen war nicht nur auf Haus und Herd beschränkt: Sie pflegten und verteidigten den Hof, leiteten Werkstätten und handelten mit Waren. Und: Sie lasen und schrieben. Denn derlei intellektuelle Fertigkeiten behrrschten lange Zeit vor allem Frauen.
Die Hofherrin: Die Macht der Schrift
Der Gürtel ist über tausend Jahre alt und schimmert trotzdem noch leuchtend rot. Einst wurde er als kostbares Geschenk an die Kirche gestiftet, heute liegt er im Diözesanmuseum St. Afra in Augsburg. Seine Schöpferin beherrschte die damalige Technik des Brettchenwebens perfekt. Das bezeugt auch die gut lesbare Inschrift in schlanken, hohen Lettern, mit der sie sich selbst verewigt hat: "Albecunde" prangt auf der Seide.
Der Gürtel stammt aus dem 9. oder 10. Jahrhundert, als es in unseren Breiten nur wenige Städte gab. Das Leben in Mitteleuropa war damals oft um einen Herrenhof organisiert. Und der wurde meist von Mann und Frau gemeinsam geleitet. Auch die Gürtel-Weberin war wahrscheinlich eine solche Hofherrin. Zu ihren Aufgaben gehörte die Beaufsichtigung der Textilproduktion – und das Lesen und Schreiben. Handwerke und Schrift lernten Mädchen aus der Oberschicht in den Klosterschulen, während die Jungen an Waffen und in Kampftechniken ausgebildet wurden. So waren es dann auch meist die Ehefrauen, die sich um alles kümmerten, was mit Papier- (oder besser Pergament-)kram zu tun hatte. Das bezeugt auch der Sachsenspiegel aus dem 13. Jahrhundert: Im ersten Rechtsbuch in deutscher Sprache ist klar geregelt, wer etwas erben oder bei einer Scheidung behalten durfte. Schriften und Bücher gingen an die Frau – die Männer konnten sowieso nicht viel damit anfangen. Sogar Otto der Große soll lesen und schreiben erst in höherem Alter gelernt haben, und das nie besonders gut.
Im Alltag waren es also wohl meistens Frauen, die Mitteilungen aufzeichneten, Notizen machten und wichtige Dokumente verwahrten. Eine Studie von Anfang 2025 zeigt, dass auch unter den professionellen Schreibern mehr Frauen waren als lange angenommen. Jede hundertste mittelalterliche Schrift konnte eindeutig einer weiblichen Person zugeordnet werden, über Namen oder eine Selbstbezeichnung, die wahre Zahl liegt sicher noch höher. 2019 fanden Forschende Lapislazuli-Pigment im Zahn einer Frau, die vor etwa 1000 Jahren gelebt hatte. Dieses Pigment wurde für besonders wertvolle Manuskripte verwendet, womöglich war die Frau eine Illustratorin.
Christine de Pizan und Hildegard von Bingen
Gleichzeitig erinnern wir uns heute nur an wenige Schriftstellerinnen aus dieser Zeit. Eine der bekanntesten ist Christine de Pizan (1364–1430), die im ausgehenden Mittelalter sogar von ihrer Autorentätigkeit leben konnte. "Der Sendbrief der Othea", eine Anleitung für Ritter, wurde zum Bestseller. Noch bemerkenswerter ist "Das Buch von der Stadt der Frauen": Pizan entwirft darin eine Utopie, den Beginn "eines neuen Reiches der Frauen". Pizan schreibt damit explizit gegen männliche Kollegen an, die das weibliche Geschlecht als minderwertig und den Ursprung allen Übels brandmarkten. Sie schreibt sich auch selbst in das Werk hinein und verkündet selbstbewusst: "Wenn man Mädchen in die Schule schicken, sie studieren lassen würde, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen." Heute sieht man in Pizan eine der ersten Feministinnen.
In intellektuellen Kreisen waren Frauen im Mittelalter ebenfalls vertreten. Hildegard von Bingen (1098-1179) etwa war schon zu Lebzeiten hoch angesehen. "Sie war Wissenschaftlerin, betrieb Astrologie, erfand eine komplette Sprache, war Linguistin", sagt Historikerin Janina Ramirez im Onlinemagazin Culturall über von Bingen. "Sie war außergewöhnlich in allem. Ein Leonardo da Vinci, 400 Jahre bevor Leonardo da Vinci überhaupt geboren wurde."
Noch früher, um etwa 800 n.Chr., entstand unter Karl dem Großen eine Art erster geistiger Elite. Ein Thinktank aus Gelehrten, Adeligen und Kirchenvertretern, in dem auch gestritten werden durfte. Zum Beispiel darüber, ob die Erde eine Kugel sei oder nicht. Sie trafen sich am Hof und schrieben sich Briefe in endlosen Versen. Sie duzten sich und rissen sogar derbe Witze übereinander: "Eine Ära, in der Denken ausdrücklich erlaubt war", nennt es Hermann Schefers, Historiker und Leiter des Welterbes Kloster Lorsch. Und auch Frauen mischten mit, unter anderem die Tochter Karls.
Größer als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern waren damals eher die zwischen den Schichten: Das Leben von Bauern und Bäuerinnen, abhängig und gebunden in Herrschaftsverhältnissen, war von andere Einflüssen bestimmt als das hochgeborener Menschen.
Ursula von Köln: Als Pilgerin zu Fuß in die Freiheit
Als die Pilgerin im späten 4. Jahrhundert aufbricht, haben sich die Grenzen des weströmischen Reiches gerade aufgelöst. Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Bewegung: von Waffentrupps, Familien, Tieren, ganzen Dörfern. Die Reise und die Pilgerin werden zu Legenden, als Ursula von Köln und das Martyrium der 11.000 Jungfrauen.
Die Geschichte wird so erzählt: Eigentlich sollte Ursula heiraten, willigte aber nur unter einer Bedingung ein. Die Edelfrau wollte vorher eine Pilgerreise unternehmen, von der Bretagne nach Rom und zurück, begleitet von mehreren Gefährtinnen. Was mag ihnen auf ihrem Zug widerfahren, wer ihnen begegnet sein? Ihre Prozession, sämtlich Frauen, unbegleitet und selbstbestimmt, muss auf die Menschen eine schockierende Wirkung gehabt haben: eine Provokation für die heidnische Bevölkerung – und für Männer.
Im Frühmittelalter fanden mehrere Missionsbewegungen statt, die das Christentum über den europäischen Kontinent verbreiteten. Die Forschung hat etwa die Routen der keltisch-irischen und der angelsächsischen Mission gut nachgezeichnet. Wir kennen bis heute das Bild des Wandermönchs: Männer mit Tonsur und nicht mehr Besitz als die Kutte am Leib. Klöster tragen ihre Namen, ihre Geschichten werden immer noch erzählt. Etwa die von Bonifatius, der angeblich die Chatten bekehrte, indem er ihre heilige Donar-Eiche fällen ließ.
Derart ausführliche Lebensschilderungen fehlen für die Pilgerinnen. Ihre Namen finden sich zwar in schriftlichen Quellen: Eangyth und Lioba, Hugeburc von Heidenheim und Hildegund von Schönau, Egeria und Gerberga. Doch Bücher und Aufsätze über die Fürsprecherinnen des Christentums sind rar, obwohl es offensichtlich einige gab. Im Fall von Ursula ist die Geschichtswissenschaft nicht mal sicher, ob eine reale Person dieses Namens jemals existierte.
In der Legende findet Ursula einen gewaltsamen Tod. Auf dem Rückweg der Pilgerreise halten Hunnen das Schiff der Pilgerinnen auf dem Rhein bei Köln auf und stellen sie vor die Wahl: Entweder geben sie ihren Glauben auf und heiraten die Männer – womöglich eine Chiffre für Sex –, oder sie müssen sterben. Die Frauen wählen den Tod. Und wurden so unsterblich: Aus der Pilgerreise einer Frauengruppe wird die Legende der 11.000 Jungfrauen, die sich lieber dem Martyrium aussetzen, als ihren Gott aufzugeben.
Genau solche Erzählungen inspirierten die Menschen, den christlichen Glauben anzunehmen – und waren effektiver als das Schwert, argumentieren einige Historiker. Gerade Pilgerinnen müssen eine große Faszination ausgeübt haben, mit ihrer starken Überzeugung und dem Mut, die Gefahren der heiligen Reise auf sich zu nehmen. Ohne sie hätte das Christentum wohl viel länger gebraucht, um sich gegen die heidnischen Religionen durchzusetzen. Und im Pilgerwesen fanden diese Frauen eine Möglichkeit, ihr Leben und die Welt zu gestalten.
Königin und Power Couples: Zeichen der Herrschaft
Den Thron sichern und einen Nachfolger gebären, möglichst männlich: Das gehörte auf jeden Fall zur Aufgabe von Herrscherinnen im Mittelalter. Schaut man aber genauer hin, hört ihr Einflussbereich dort bei weitem nicht auf. Im Gegenteil: Damals führten Adelshäuser mitunter regelrechte "Power Couples" an, wie es der Historiker Tobias Daniels von der Universität Heidelberg nennt. Das zeigt sich auch auf Bildnissen dieser Zeit, "die den Eindruck erwecken, dass man gemeinsam an der ‚Spitze des Reiches‘ stand", schreibt die Historikerin Amalie Fößel: Königin und König werden nebeneinander und gleich groß dargestellt.
Waren Frauen schon vorher wichtig, wurde die Doppelherrschaft unter den Ottonen geradezu zur Regel. Schon zu Lebzeiten ihrer Männer wurden Adelheid und ihre Schwiegertochter zu Kaiserinnen gekrönt. Sie fungierten als Beraterinnen, Bittstellerinnen und Fürsprecherinnen, unentbehrliche Funktionen einer Herrschaft. In einem Viertel aller Urkunden unter Otto dem Großen finden sich Interventionen durch die Herrscherin, bei Theophanu sind es sogar fast ein Drittel.
Theophanu, Adelheid und Mathilde
Nach Ottos Tod 973 und, nur kurze Zeit später, dem seines Sohns und Nachfolgers Otto II., hielten sogar drei Frauen gemeinsam die Macht im Reich: Theophanu und Adelheid auf Reisen als eine Art Außenministerinnen, Mathilde auf dem Stammsitz in Quedlinburg.
Als Mathilde mit nur elf Jahren zur Äbtissin von Quedlinburg ernannt wurde, war das sicher kein Posten, um eine Königstochter auf dem Abstellgleis zu parken. Eher ein weiterer Schritt auf einer steilen Karriereleiter, die sie schon kurz nach ihrer Geburt bestieg. Während der Reisekönig und Kaiser den Großteil seiner Amtszeit in Italien auf Schlachtfeldern und in Verhandlungsrunden verbrachte, repräsentierte Mathilde den Willen der kaiserlichen Familie nördlich der Alpen. Einen Hinweis darauf bietet eine päpstliche Urkunde von 967, das dem Quedlinburger Stift die Exemtion erteilte: Dessen Rechtsprechung unterstand damit nicht länger dem Halberstädter Bischof, sondern der Äbtissin. In der Urkunde wird Mathilde sogar als "Augusta", als Kaiserin bezeichnet. Später ernannte man sie als einzige kirchliche Frau jemals zur Reichsverweserin. "Domina imperialis", kaiserliche Herrin, hieß sie nun in den Quellen.
20 regierende Königinnen qua Geburtsrecht zählt die Geschichtswissenschaft zwischen 1100 und 1600 in Europa, mehr als in späteren Jahrhunderten. Wieso aber verloren die Frauen ihre Macht? Dafür gibt es mehrere Gründe. Während ihnen die Kirche in ihren Anfängen Freiheit und Einfluss gewährte, belebte sie später die aristotelische Vorstellung vom "Mängelwesen Frau" wieder, allen voran durch Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert. Historikerin Fößel verweist außerdem auf "Staatswerdungsprozesse und den Ausbau von Ämter- und Verwaltungseinheiten": Staaten und Institutionen, von Männern für Männer geschaffen, übernahmen nun die Herrschaftsaufgaben. Und von den damals neuen Universitäten waren Frauen ohnehin von Anfang an ausgeschlossen.
Die Idee, dass Frauen sich aus dem öffentlichen Leben ganz herauszuhalten hätten, ist sogar noch jünger: Erst die bürgerliche Gesellschaft der Neuzeit dachte sich Heim und Herd als natürlichen Wirkungsbereich der Frau aus. Dabei lässt sich das Mittelalter auch anders imaginieren, wie das International Journal of Historical Researches schreibt: als "eine Welt, in der außergewöhnliche Frauen sich als verdiente Anführerinnen, Diplomatinnen, religiöse Entscheiderinnen, Abenteurerinnen, Unternehmerinnen, Künstlerinnen, Fördererinnen, Mystikerinnen, Bewegerinnen und Rüttlerinnen, Kriegerinnen, Universalgelehrte und Forscherinnen bewiesen".