Es passiert im Jahr 1942 im Kloveniersburgwal 53 in Amsterdam, einem fünfstöckigen Gebäude. Willy Lachotzki, Elsbeth Lachotzki-Berner, Betty Lewy-Lachotzki und später auch Rosalie Lachotzki-Cohn werden aus ihrem Alltag gerissen, von jetzt auf gleich aus ihren Wohnungen vertrieben.
Sie werden zum Umzug ins niederländische Durchgangslager Westerbork gezwungen – wie über 100 000 weitere Menschen jüdischer Abstammung. Es ist nur eine Zwischenstation. Bald schon werden sie in das Konzentrationslager Auschwitz transportiert und dort kaltblütig ermordet – Willy und Elsbeth am 15. Dezember 1942, Rosalie und Betty kurz darauf am 5. und 12. Februar 1943.
Aufpolierte Erinnerung
78 Jahre später kniet die elfjährige Sarie mit ihrer Freundin Emma und ihrem Freund Kai auf dem Bürgersteig vor ebenjenem Haus, in dem die Lachotzkis lebten. Sie beugt sich über vier kleine Betonwürfel mit einer Messingplatte darauf, die in den Gehweg eingelassen sind. In jede ist einer der Namen der Lachotzkis eingraviert. „Stolpersteine“ werden die knapp zehn mal zehn Zentimeter großen Denkmäler genannt.
Sarie kippt ein wenig Putzmittel aus einer Flasche darauf und beginnt, den Dreck abzuschrubben, der sich über die Jahre darauf gesammelt hat. „Es macht mich traurig, wenn ich an diese Familie denke und daran, was ihnen angetan worden ist. Gleichzeitig bin ich froh, dass es hier Stolpersteine gibt und ich dazu beitragen kann, dass sie wieder glänzen“, sagt sie.
Mahnende Denkmäler
Stolpersteine finden sich überall in Europa vor Häusern, in denen die von den Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten Verfolgten einst lebten, vor den Schulen, in denen sie lehrten, vor den Krankenhäusern, in denen sie arbeiteten. So sorgen sie buchstäblich auf Schritt und Tritt dafür, dass die Massenmorde der Nazis nicht vergessen werden.
„Ich finde diese Art des Denkmals besonders persönlich, nicht so anonym wie ein großes Mahnmal. Jeder Stolperstein gilt einem einzelnen verfolgten Menschen“, sagt Sarie. „Das berührt einen sehr. Du läufst einfach so umher und denkst nicht an den Krieg, und plötzlich siehst du einen Stolperstein vor dir und wirst an die Schrecken von damals erinnert.“
Gedenken eines Künstlers
Genau das ist das Ziel von Künstler Gunter Demnig, dem Erfinder des Projekts. Mehr als 75 000 Stolpersteine haben er und seine Unterstützerinnen und Unterstützer inzwischen in weit über 1200 Gemeinden in Deutschland und 25 weiteren Ländern Europas verlegt. Meist geben Vereine, Schulen oder andere Organisationen den Anstoß für neue Stolpersteine. Sie finden heraus, wo Verfolgte wohnten, und beantragen dann die Verlegung eines solchen Denkmals. Oft lassen die Kommunen, die den Bau genehmigen müssen, jüdische Gemeinden entscheiden, ob ein Stein verlegt werden soll oder nicht.
Das ist auch der Grund, warum man etwa in München nicht über die Steine stolpert: Die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde dort lehnt das Projekt ab. Sie findet, durch Stolpersteine würden die Opfer des Nationalsozialismus ein zweites Mal mit Füßen getreten. Schließlich gehen viele Menschen einfach achtlos über die Denkmäler hinweg. Die Mehrheit der jüdischen Gemeinden sieht das jedoch anders: Die Gedenksteine besitzen eine enorme Kraft, finden sie – genau wie Sarie, Emma und Kai in Amsterdam.
Als sie bereits vor dem nächsten Haus im jüdischen Viertel sitzen und polieren, bleibt ein älterer Herr hinter ihnen stehen. Er fängt an zu lesen, was auf dem Stein steht, den Sarie gerade mit Putzmittel und Schwamm bearbeitet. „Mir sind die Steine zuvor nie aufgefallen“, sagt er überrascht. „Wie toll, dass ihr sie säubert. Ihr jungen Leute macht eine großartige Arbeit!“