Nachts, wenn der Schleier der Dunkelheit über dem Ozean liegt, verwandelt sich das Riff in einen Laufsteg. In eine Showbühne für die Schönsten der Schönen! Die Spanische Tänzerin schwebt in einem feuerroten Mantel über die Korallen. Eine andere Diva trägt ein Leopardenkostüm mit weißer Spitze. Nun ja, zugegeben: Die Supermodels sind oft nicht größer als ein kleiner Finger. Und sie führen ihre Gewänder auch lediglich im Schneckentempo vor. Was ganz natürlich ist, denn es sind Meeresnacktschnecken. Ihre Farbenpracht aber übertrifft vieles, was zwischen Korallen und Seegrashalmen herumkriecht.
Ob neon-pinkfarbenes Stachelkleid mit weißen Punkten oder blaues Streifenmuster auf zitronengelbem Untergrund: Jede noch so schrille Mode ist erlaubt in der 5000 Arten umfassenden Familie der Nacktkiemer. So wird diese Gruppe der Meeresnacktschnecken in der Fachsprache genannt. Im Gegensatz zu anderen Wasserschnecken besitzen sie nämlich nicht mal den Rest eines Schneckenhauses. Sie sind völlig nackt.
Wahrscheinlich hat sich die Natur deshalb ein paar Besonderheiten zum Schutz der Schönlinge einfallen lassen. Viele Tiere tragen ihre quietschbunten Kleider als Warnung. „Achtung, ich bin ungenießbar“, lautet die Ansage für hungrige Fische und Krebse. Feinde, die trotzdem zuschnappen, erleben ihr blaues Wunder. Sie sterben an dem Gift, das die Schnecken durch Hautdrüsen absondern, oder nehmen Reißaus, weil ihnen plötzlich Hunderte winziger Pfeile entgegenschießen.
Auf solche Gegenangriffe mit piksenden Nesselkapseln hat sich eine Untergruppe der Nacktkiemer spezialisiert. Wie sie allerdings an ihre Waffen gelangen, grenzt fast an ein Wunder. Die Schnecken fressen dazu Korallen oder Seeanemonen, deren Fangarme die Nesselkapseln enthalten. Irgendwie gelingt es ihnen, die Geschosse gefahrlos durch ihren Verdauungstrakt zu schleusen und in kleinen Hautsäcken zu sammeln. Beißt nun ein Fisch auf eine solche Waffenkammer, zerplatzt die Blase und rettet der Schnecke das Leben.
Ähnlich raffiniert produzieren andere Nacktschnecken ihren Giftcocktail. Sie stürzen sich auf Schwämme, Algen, Moostierchen oder Korallen, zerkleinern die Nahrung mit ihrer Raspelzunge und filtern tödliche Inhaltsstoffe wie Schwefelverbindungen heraus, ohne selbst daran zu sterben.
Doch nicht jede Meeresnacktschnecke steht gern im Rampenlicht oder trägt Nesselbomben auf dem Rücken. Einige Schüchterne legen sich lieber ein grün-braunes Tarnkleid zu, das sie zudem noch mit Energie versorgt. Wie das geht? Die schleimigen Diebe saugen einzellige Algen aus und behalten deren Chloroplasten: Jene grünen Minifabriken, in denen aus Sonnenlicht und Kohlendioxid Zucker hergestellt wird.
Eine Art hat sogar Gene aus einer Alge in das eigene Erbgut eingebaut, damit die pflanzlichen Energieproduzenten auch über eine längere Zeit funktionieren. So können die Schnecken bei Futtermangel jederzeit auf Solarbetrieb umschalten. Eine Fähigkeit, die so einmalig im Tierreich ist wie die schrillen Kostüme, die jeden Abend auf dem Meeresboden zu bestaunen sind.