Ein sehr, sehr früher Mittwochmorgen Anfang April im winzigen Hafen der Ostseeinsel Ummanz. Möwen schreien, es riecht nach Fisch und Brackwasser. An der Kaimauer schaukelt ein einzelner kleiner Kutter in den Wellen. Mit der "UMM-1", so sein Name, fangen die Fischer Jan Schultz und Ivo Nordt eigentlich tonnenweise Heringe, die später als Rollmops in Gläsern oder als Matjes zwischen Brötchenhälften enden.

Heringsfang in der Ostsee
Die Beute von heute aber wird nicht verputzt, dafür sorgen Alexander Dressel und Henning May vom Meeresmuseum Ozeaneum im nahen Stralsund. In wenigen Wochen sollen dort neue Heringe in eines der Schaubecken einziehen. Darin lebt bereits ein Schwarm mit Hunderten Fischen. Doch der schrumpft beständig, weil etwa Tiere an Altersschwäche sterben. Ab und zu muss das Team vom Ozeaneum den Heringsschwarm deshalb "auffüllen".
Das Problem dabei ist nur: Anders als bunte Tropenfische können die Männer die Tiere nicht einfach in der Zoohandlung oder bei einem Züchter kaufen. Henning May und Alexander Dressel müssen ihre "Ansichtsexemplare" selbst aus dem Wasser holen. Deshalb stecken sie heute in dicken Regenjacken, die Kragen hochgeklappt bis unters Kinn, die Strickmützen weit über die Ohren gezogen. Bereit zum Ablegen.

Leinen los!
Der Schiffsmotor hustet eine schwarze Abgaswolke in die Morgendämmerung, dann tuckert die UMM-1 auf die Ostsee hinaus. Sie nimmt Kurs auf die erste Reuse, eine ausgeklügelte Anlage aus Netzen (siehe Grafik unten). Die Chancen für einen fetten Fang stehen gut: Jetzt im Frühjahr ziehen Abermillionen Heringe von ihren Futtergründen im Nordatlantik Tausende Kilometer weit bis an die Küste vor Rügen und vor der Nachbarinsel Ummanz, um dort zu laichen.
So funktioniert eine Reuse:

Heringe schwimmen stets vorwärts und kehren nie um, dafür sorgt ihr Instinkt. Genau das nutzen die Fischer mit ihren Reusen aus: Dort, wo die Heringe in großen Schwärmen (1) durch die Ostsee ziehen, rammen sie im Frühjahr Holzstangen (2) in den Ostseeschlick. Daran spannen die Fischer quer zur Wanderrichtung der Heringe ein Leitnetz (3) auf. Es versperrt den Fischen den Weg geradeaus und lenkt sie so in die Reusenkammern (4). Diese sind am Boden und an den Seiten von Netzen umgeben, nach oben aber offen. Die Eingänge (5) werden von Kammer zu Kammer immer enger, wie bei einem Trichter. Die Heringe finden so leicht in die Reuse hinein - aber nicht mehr hinaus.

Ein guter Fang
Doch nun sind die Männer schon anderthalb Stunden auf dem Wasser, Reuse Nummer eins und Nummer zwei haben sie bereits abgeklappert – ohne Erfolg. "Jetzt wird’s spannend!", schreit Alexander Dressel über den Motorenlärm hinweg, als sie bei Reuse Nummer drei ankommen. Mit bloßen Händen ziehen die Fischer die Maschen aus der acht Grad Celsius kalten Ostsee, bis das Netz wie ein geöffneter Sack unter der Oberfläche hängt. Hunderte silbrige Leiber zappeln im grünbraunen Wasser. "Heringe, Freunde, Heringe!", ruft Alexander Dressel über Deck. "Die nehmen wir mit."
Das Netz einfach zuziehen und an Bord wuchten, das können Henning May und Alexander Dressel aber nicht. Heringe haben ein empfindliches Schuppenkleid. Wird es verletzt, fangen sich die Tiere leicht Krankheiten ein und sterben. Deshalb schöpft sie das Team mit großen Wannen aus dem oben offenen Netz und kippt sie vorsichtig in weiße Tanks, die an Deck des Kutters stehen.

Zwanzig Minuten später zuckelt die UMM-1 voll beladen zurück zum Hafen. Nachdem sie angelegt hat, wird es hektisch: Wie Ärzte bei einer Operation wuseln Alexander Dressel, Henning May und die Fischer konzentriert zwischen Kutter und Kaimauer hin und her, hieven mit einem Gabelstapler die Tanks an Land und anschließend in einen Transporter.
Dort versorgen sie ihre "Patienten" sofort mit Sauerstoff: Über grüne Schläuche blubbert das lebenswichtige Gas aus einer Flasche in die Tanks hinein. Der Sauerstoff, der ohnehin schon im Wasser enthalten ist, reicht nämlich nicht aus: Zu viele Fische tummeln sich darin auf zu wenig Raum.

Zuhause auf Zeit für die Heringe
Der ganze Aufwand macht die Heringe teuer: Bis zu 2,50 Euro betragen die Kosten pro Fisch, bei einem gewöhnlichen Speisehering sind es nur rund sieben Cent. Kein Wunder also, dass die wertvolle Ware so schnell wie möglich ans Ziel ins 35 Kilometer entfernte Ozeaneum muss.
Dort treffen die Heringe auf ihre neuen Mitbewohner: Zwölf Haie, drei Seeigel und vier Seespinnen leben bereits in den Nachbartanks des Quarantänebereichs, hinter den Museumskulissen.
Auch die Heringe bekommen dort erst einmal ihr eigenes Becken. So stellt das Team sicher, dass wirklich kein Tier erkrankt ist und die anderen Fische im Schaubecken ansteckt.
Sensoren überwachen dieses Quarantänebecken Tag und Nacht. Wenn etwa das Wasser zu warm wird oder zu wenig Sauerstoff darin ist, schrillt bei einem der Mitarbeiter ein Handy-Alarm

Beim Einsetzen zählen die Männer einmal durch: Rund 1200 Heringe haben sie heute gefangen - mehr als genug. In sechs Wochen ziehen die Fische ein letztes Mal um, zum Riesenschwarm in das Aquarium "Offene Ostsee", als große Besucherattraktion.
Das riesige Becken fasst 68000 Liter Wasser, so viel, wie in rund 450 Badewanne passt, und mehrere Hundert Heringe. Einmal im Jahr zählt das Team die Fische, damit es weiß, wie viele es beim nächsten Mal fangen muss
