Mary ahnt nichts. Sie hockt in ihrer Höhle, während der Herbstwind draußen Birken und Buchen rascheln lässt. Ihr Spielseil schwingt am Ast, das Wasser im Badeteich kräuselt sich. Kaum hörbar pirscht sich Johanna Painer über die Wiese heran. Fix zückt sie das Gewehr, legt an, zielt – dann löst sich der Schuss. Mary brummt leise, als sich die Nadel in ihren Körper bohrt. Schließlich sackt sie in sich zusammen. Tierärztin Johanna Painer vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin hat Bärendame Mary mit einer Spritze betäubt. Denn Mary muss zum Zahnarzt. Und dorthin würde sie natürlich niemals freiwillig gehen. Darum braucht der 150-Kilo-Koloss eine Vollnarkose und sechs Tierpfleger, die die schlappe Bärin auf eine große Plane schieben und sie damit auf einen Anhänger wuchten. Abfahrt! Der Zahnarzt wartet.
Marc Loose ist schon früh am Morgen in Hamburg aufgebrochen und zum Bärenwald Müritz gefahren. Eigentlich ist er ein Zahnarzt für Menschen. Ab und zu behandelt er aber auch die Bären in diesem Tierpark. Dafür hat er im Bärenwald ein Behandlungszimmer eingerichtet, mit einem Operationstisch, breit wie ein Doppelbett. Daneben liegen Spritzen, Tupfer, Bohrer, Feilen und Zangen. „Für die Bären musste ich mir extragroße Werkzeuge anschaffen, einfach weil ihre Zähne viel größer sind“, sagt Marc Loose. Als der Wagen mit Mary im Anhänger vorfährt, knirschen draußen die Reifen auf dem Sand. Die Helfer hieven die Bärin auf den Behandlungstisch. Zunächst muss der Kiefer geröntgt werden. Keine Brüche, alles in Ordnung. Johanna Painer schließt die Bärendame an das Beatmungsgerät an, misst ihren Herzschlag und die Körpertemperatur. Sie bindet die Beine der Bärin mit Stricken am Tisch fest, damit das Tier nicht herunterrutscht – und damit niemandem etwas passiert, sollte Mary doch aufwachen. „Sie ist schon 27 Jahre alt, das ist recht betagt für eine Bärin“, erklärt Johanna Painer. „Deshalb muss ich die ganze Zeit überwachen, ob es ihr auch gut geht.“ Das Wohl der Bären steht im Bärenwald Müritz an oberster Stelle. In vielen Tierparks hausen die großen Räuber in zubetonierten Gehegen, viel zu klein für die Wildtiere und unendlich langweilig. Tierschützer der Organisation „Vier Pfoten“ haben deshalb den Bärenwald gegründet, wo jeder der zurzeit 19 Bären ein Gehege hat, groß wie eine Pferdeweide. Und mit Teichen zum Baden, Bäumen zum Schubbern und Höhlen, in denen die Tiere Winterruhe halten können, fast wie in der Wildnis. Für Tiere, die lange Jahre in Zoos gelebt haben, ist das ein Paradies. Außerdem checken Ärzte die Tiere regelmäßig durch und behandeln sie, wenn sie krank sind – wie Marc Loose heute Bärendame Mary.
Die liegt mit weit aufgerissenem Maul auf dem OP-Tisch. Der Zahnarzt schiebt ihre Unterlippe herunter, sodass die beiden langen, unteren Reißzähne bis zum rosafarbenen Zahnfleisch sichtbar werden. „Da, der eine ist halb abgebrochen. Das kann passieren, wenn Bären in Gefangenschaft an Gitterstäben nagen“, sagt der Zahnarzt. „Hier müssen wir eine Wurzelbehandlung machen, sprich: den Wurzelkanal säubern und mit neuer, fester Masse auffüllen.“ Er greift nach einem Bohrer; ein hohes Surren ertönt. Bald ist ein Loch im Zahn sichtbar, das tief hinunter zur Wurzel führt. Marc Loose schleift es mit einer langen Feile aus, die einer riesigen Nadel gleicht, spült es und benetzt es mit einer Tinktur. Diese soll den Zahn aufrauen, damit die neue Füllung am Ende besser im Wurzelkanal haftet. Doch plötzlich ruft Johanna Painer vom Fußende der Patientin: „Wir brauchen mehr Decken! Marys Temperatur sinkt.“ Normalerweise hält ein Braunbär eine Körpertemperatur von rund 38 Grad Celsius, also ein gutes Grad mehr als der Mensch. Doch das Thermometer der Tierärztin zeigt nur noch 34,8 Grad an. Das liegt an den Betäubungsmitteln. In Windelseile stapeln die Helfer Wolldecken auf Marys Braunbärbauch. „Dauert es noch lange?“, fragt Johanna Painer den Zahnarzt. „Ich muss sie bald zurückholen.“ „Noch 15 Minuten, ich beeile mich“, antwortet Marc Loose. Nun wird es hektisch: Minütlich misst Johanna Painer die Temperatur, ihr Assistent meldet die Anzahl der Atemzüge pro Minute, der Herzschlagmesser piept. Marc Loose quetscht weiße Kunststoffmasse in den Wurzelkanal des Reißzahnes und beleuchtet ihn dann mit blauem Licht. „So härtet die Masse aus“, erklärt er.
Es ist geschafft. Die Helfer befreien die Bärin von Decken und Kabeln, wuchten Mary wieder auf den Anhänger und fahren sie zurück ins Gehege. „Wenn sie in ein, zwei Stunden aufwacht, wird sie kaum noch etwas spüren. Vielleicht ist ihr Zahnfleisch ein bisschen gereizt, das ist alles. Aber das Fressen wird ihr deutlich leichter fallen“, sagt Marc Loose. In einem Jahr wird er wiederkommen, zur Zahnkontrolle – und Mary ordentlich das Maul aufreißen.
In unserer Fotostrecke erfahrt ihr mehr über den Zahnarzt-Termin im Bärenwald