Der Tag startet mit schlechten Nachrichten: Wikingerkinder waren schon mit zwölf Jahren erwachsen! Und das hieß: Arbeiten statt Spielen! Als Ronja und Taalke das hören, machen sie große Augen. Die beiden sind Schwestern, acht und zehn Jahre alt, haben blonde Zöpfe, Gesichter voller Sommersprossen – und Ferien. Dachten sie zumindest. Doch dass sie nun kochen, waschen und schleppen sollen, das klingt so gar nicht nach Sommerurlaub. Die beiden packen trotzdem mit an, weil sie sich etwas vorgenommen haben: Eine Woche wollen sie wie Wikinger leben!
iPod und Smartphone bleiben zu Hause
Die Mädchen gehören zu einer Gruppe aus der Nähe von Koblenz. Ihre zehnstündige Anfahrt war auch eine Zeitreise ins frühe Mittelalter. Sie endete in Ribe, der ältesten Stadt Dänemarks, eine Autostunde von der deutschen Grenze entfernt. Schon um das Jahr 700 haben die Wikinger den Ort gegründet und in ein brodelndes Handelszentrum verwandelt.
Heute steht an gleicher Stelle ein Museumsdorf mit weißen Zelten, Marktplatz, Wohnsiedlung und Pferdekoppeln. Freiwillige aus den Niederlanden, Deutschland und Dänemark haben sich hier als Wikinger beworben und stellen deren Alltag nach. Sie verzichten auf Elektrogeräte, Sonnenbrillen und Plastik, tragen weite Leinenkleider und beantworten die Fragen der Tagesgäste. Im Gegenzug dürfen sie abends bleiben, wenn das Museum schließt. Neben Ronja und Taalke wohnen an diesem Wochenende etwa 100 Hobbywikinger im Dorf.
Am Morgen schlendern die Mädchen zu der Wohnsiedlung aus Lehmhäusern. Vor den Gebäuden treiben ein paar Bärtige Äxte in Holzblöcke. Geschirr und Möbel wollen sie daraus schnitzen. Ronja und Taalke steuern auf das "Thinghaus" zu, früher ein Versammlungsort, an dem die Wikinger die Dorfregeln bestimmten.
Als sie über die Schwelle treten, ist es, als hätte jemand die Geräusche von draußen leiser gedreht. Nur ein Feuer knistert in der Ecke. Bunte Wandmalereien, Holzbänke und Tierfelle versinken im Halbdunkel. Eine Wikingerin namens Maiken erklärt hier drinnen, wie Wikingerkinder lebten – und dass sie eben schon mit zwölf erwachsen waren. Dann sagt sie zu Ronja und Taalke: "Ich zeige euch jetzt, was Mädchen lernen mussten."

Die Schwestern merken schnell: Einen Wikingerhaushalt zu schmeißen ist mühsam. Maiken drückt ihnen zwei Steine in die Hand – "ein Wikingerfeuerzeug", wie sie sagt. Ronja und Taalke schlagen die scharfen Kanten der Steine aneinander, immer schneller, immer stärker. Dann stieben ein paar Funken. Maiken sieht ganz zufrieden aus.
Erster Punkt auf der Einkaufsliste: Schafswolle!
Im Nebenraum sollen die Mädchen Mehl mahlen. Dafür streuen sie Getreidekörner zwischen zwei Mahlsteine, groß wie Autoreifen, und drehen die Flächen aufeinander hin und her, dass es knirscht. Wie lange es wohl dauert, bis man davon ein Brot backen kann? "Zwei Stunden", antwortet Maiken und muss selbst lachen. Die Mädchen dürfen früher Schluss machen: Draußen wartet dreckige Wäsche.
Ein bisschen misstrauisch mustern Ronja und Taalke den hellbraunen Stoff, halten ihn gegen das Licht, um die Flecken besser zu sehen. "Das war wohl mal ein Putztuch", sagt Maiken, "vielleicht aber auch eine Wikingerunterhose." Die knotete man damals tatsächlich aus Tüchern, erzählt sie. In den Bottich mit kaltem Wasser mischen die Schwestern nun das Waschmittel – eine Paste aus Fett und Asche, von der man erst glaubt, sie mache die Wäsche noch schmutziger. Doch es klappt: Als Ronja und Taalke den Stoff zum zweiten Mal über das Waschbrett schrubben, verschwindet der Schmutz. Ausspülen, auswringen, aufhängen. Fertig? Noch nicht ganz...
Maiken schickt die Mädchen auf den Marktplatz. Sie sollen Schafswolle verkaufen und für das Geld beim Perlenmacher Schmuck besorgen. Eine rote und eine blaue Perle bestellt Maiken und ruft den Mädchen hinterher: "Lasst euch nicht übers Ohr hauen!" Der Weg zum Markt führt über Trampelpfade und Holzstege. Bis ins 9. Jahrhundert standen genau an diesem Fleck die Stände der Händler.
Die Währung der Wikinger: Silbermünzen
Wo die Holzschuhe der beiden Mädchen klappern, klirrten die Hammerschläge des Schmieds. Töpfer ließen zwischen ihren flinken Fingern Tongefäße in die Luft wachsen, Färber verkauften bunte Kleider. Woher man das weiß? Stoffe, Tonscherben, Schmuck, Leder, buntes Glas und rund 150 Silbermünzen – all das wurde hier ausgegraben, als die Wikinger fort waren. Noch immer tauchen in Ribe Fundstücke auf, wenn in der Stadt Keller gegraben oder Abwasserrohre verlegt werden.
Heute ist wenig los auf dem Markt. Nachdem sie die Wolle verkauft haben, besitzen Ronja und Taalke drei Silbermünzen – in Wikingertagen ein Vermögen. Der Perlenmacher scheint ein gutes Geschäft zu wittern, als die Mädchen in sein Zelt treten. Er holt eine Schüssel mit regenbogenbunten Perlen und beginnt zu feilschen. "Rote und blaue Perlen sind besonders teuer", sagt er – weil man sie mit den Metallen Kupfer und Kobalt herstellt. Außerdem hat er doch das Rohglas aus Italien kommen lassen und am brütend heißen Ofen rundgeschmolzen. Am Ende werden sie sich einig: Die Mädchen zahlen eine Silbermünze für beide Perlen.
Nach ein paar Stunden als Wikingerinnen sind Ronja und Taalke erschöpft. Ein bisschen spielen sie am Nachmittag dann doch noch, schwingen mit einem Seil über den Fluss und lassen sich ins eiskalte Wasser fallen. Trotzdem: "Wie Urlaub fühlt es sich hier nicht an, es ist eher ein anderer Alltag", sagt Taalke. Beneidet sie die Wikingerkinder? "Nein, ein Leben ohne Strom ist wirklich anstrengend", sagt sie.
Dann gehen die letzten Besucher. Abendlicht. Die Mädchen lauschen dem Zirpen der Grillen und überlegen, was sie heute über dem Feuer braten. Ronja fährt mit ihren nackten Füßen durch das Gras. "Manchmal", sagt sie dann und blinzelt in die Sonne, "manchmal hatten es die Wikinger auch richtig gut."