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Viele Monate haben sie faul herumgelungert, Björn Eisenseite und seine Wikinger. Doch nun ist Frühling. Unruhe macht sich breit. Seit dem Herbst des Vorjahres kampieren sie nun schon auf der Insel Oissel in der Mündung des Seine-Flusses. Ihre Boote liegen auf dem Strand, die Männer leben in Zelten. Es ist ein wilder Haufen: Über den weiten Umhängen tragen die Wikinger Lederjacken, im Gesicht wächst manch einem ein krauser Bart. Abends sitzen sie am Lagerfeuer und trinken - schließlich haben sie auf ihren Raubzügen große Vorräte an Wein erbeutet.
Die Wikinger wollen Rom erobern
Doch jetzt, im Frühjahr 860, wollen sie nicht länger warten. Sie laden ihre Schilde, Äxte und Schwerter auf die Schiffe. Björn hat einen großen Plan: Eine Stadt will er erobern! Nicht irgendeine. Eine Stadt mit Weltruhm soll es sein, in der mächtige Kaiser herrschten und nun die Päpste. Björn will Rom!
Raubzüge statt Fischerei
Die Wikinger sind ein verwegenes Volk: meisterhafte Seefahrer, die seit mehr als einem halben Jahrhundert immer wieder Europas Städte und Klöster heimsuchen. Zu Hause wäre das Leben sicher mühseliger. Fischerei ist anstrengend im rauen Atlantik und gutes Ackerland in Skandinavien knapp. Auch ist solch ein Raubzug jedes Mal ein Abenteuer, eine Mutprobe, eine Herausforderung, die Ruhm und Reichtum verspricht.
Fahrten bis zum Mittelmeer
Sehr weit haben die Wikinger die Grenzen ihres Landes dazu hinter sich gelassen. Jetzt, in ihrer stürmischsten Phase, ziehen sie sogar schon plündernd durch das riesige Reich der Franken, das sich vom Atlantik bis zur Elbe, von der Nordsee bis zum Mittelmeer erstreckt. Nur ihre Familien haben sie im Norden zurückgelassen. Frauen, Kinder und Alte beackern die Felder, kümmern sich um das Vieh, sammeln Beeren und Vogeleier.

Der Anführer ist erst 25 Jahre
Björns Flotte besteht aus mehreren Dutzend Schiffen. Sie segeln nach Süden und verlieren nie die Küste aus dem Blick, zur besseren Orientierung. Der Wind bläst meist kräftig. Sie kommen gut voran. Nur selten müssen die Männer zu den Rudern greifen. Björn, ungefähr 25 Jahre alt, ist einer von vielen hundert Wikingeranführern - noch gibt es nämlich in Skandinavien keinen König, dem sich alle unterwerfen.
Leise und überraschend
Bei ihren Überfällen halten sich Björn und seine Krieger an eine bewährte Taktik. Entdecken sie ein Kloster oder eine Stadt, gehen sie möglichst heimlich an Land. Das geschieht schnell und fällt kaum auf, denn die Wikingerboote sind wendig. Sie haben einen flachen Boden, sodass sie leicht auf den Strand gezogen werden können. Auf dem Kopf eine Lederkappe, in den Händen Schwert und Schild, so schleichen die Wikinger ihr Ziel an. Dann schlagen sie überraschend zu, treten die Türen ein, stürmen die Gebäude. Wer sich ihnen in den Weg stellt oder nicht schnell genug flieht, wird umgebracht. Die Wikinger raffen Schmuck, Wertsachen und Vorräte zusammen, schleppen alles auf die Schiffe - und weiter geht's.
Kein Land, nur Schmuck
Weder Björn Eisenseite noch andere Wikingerchefs seiner Zeit haben die Absicht, Land zu erobern, zu sichern und auf Dauer zu besiedeln. Sie wollen schnell reich werden und mit ihren Schätzen bald wieder heimkehren, nach Skandinavien. Erst später, um das Jahr 900, werden die Wikinger in der Fremde sesshaft und suchen sich dazu küstennahe, sichere Plätze. Sie bauen Siedlungen, Häfen, schmieden Schmuck, prägen Münzen und handeln mit anderen Völkern. In ihren größten Orten leben bis zu 1000 Menschen. Vom weitläufigen Haithabu, einer Wikingerstadt unweit von Schleswig, ist heute noch der Verlauf des Schutzwalls zu erkennen. Bis ins 11. Jahrhundert hausen die Wikinger entlang der Nordküste des Frankenreichs und Englands. Nur noch selten brechen sie zu Raubzügen auf. Ihre Siege werden seltener, Niederlagen häufen sich. Zuletzt ziehen sie sich nach Skandinavien zurück.
Plünderungen in Nordafrika
Im Sommer 860 aber wütet Björns Truppe im Mittelmeer. In Nordafrika plündern sie einige Siedlungen und nehmen Einwohner als Gefangene mit. Ein paar Wochen darauf landen sie an der Mittelmeerküste des Frankenreichs, überfallen Arles, Nîmes und Valence. Ihr Winterlager richten die Krieger auf einer Insel in der Mündung der Rhône ein. Dort fühlen sie sich sicher, und im Falle des Falles sind sie schnell wieder auf dem Meer. Sie haben die letzte Etappe vor dem Ziel geschafft. Rom ist nicht mehr weit.
Eine clevere List

Während des Winters knobelt Björn eine List aus: Hastein, ein anderer Wikingerchef, soll sich tot stellen. Sein Gefolge soll um eine christliche Beerdigung in der Stadt bitten. Wenn die Römer dann die Tore öffnen, werden sie eine böse Überraschung erleben!
Das Paradies heißt Walhalla
Björn ist sicher, dass die Römer die Wikinger zum Christentum bekehren wollen; dass sie die wilde Horde aus dem Norden von ihrem Götterchef Odin abbringen wollen; und von dessen Sohn Thor, der in einem von zwei Geißböcken gezogenen Streitwagen angeblich durch den Himmel düst; erst recht vom Paradies Walhalla, wo nach fester Überzeugung der Wikinger jeder Krieger nach seinem Tod einzieht und unbegrenzt Bier trinken darf! Und daher glaubt er, dass die Römer die Tore öffnen werden.
Der Plan funktioniert anscheinend
Sommer 861. Björn und seine Wikinger sind am Ziel. Der Plan geht auf. Hastein, der sich tot stellt, wird von Kameraden in die Stadt getragen. Doch als sie in der Kirche ankommen, springt Hastein von der Trage. Die Wikinger ziehen ihre Schwerter und erschlagen jeden, der ihnen in die Quere kommt. Dann öffnen sie die Stadttore von innen, lassen die draußen versteckten Kämpfer herein. Sie plündern die Stadt und laden alles Wertvolle auf ihre Schiffe. Was für ein Sieg! Der Überfall auf das mächtige Rom - beinahe ein Spaziergang.
Verirrt
Doch noch vor der Abreise dämmert ihnen, dass an der Geschichte etwas faul sein muss. Die Gebäude von Rom sehen ganz anders aus, als ihnen beschrieben wurde. Schnell kommen die Plünderer auf die Lösung des Rätsels. Die Stadt, die sie überfallen hatten, war gar nicht Rom, sondern Luna - rund 450 Kilometer weiter nördlich.

Die Schiffbaukunst der Wikinger
Dass die Wikinger mit ihren Raubzügen so erfolgreich waren, lag vor allem an ihren schnittigen Schiffen. Die waren bis zu 30 Meter lang, dabei aber nur drei bis fünf Meter breit und außerdem sehr leicht. Das machte sie wendig und schnell. Blies der Wind kräftig, kamen die Segler mit über 20 km/h voran. Wikinger schafften die Strecke von Norwegen nach Island, immerhin 1300 Kilometer, in sieben Tagen! Für das große Segel eines Schiffes mussten bis zu 200 Schafe ihre Wolle lassen. Damit es sich bei Regen nicht mit Wasser vollsog und schwer wie ein nasser Lappen am Mast hing, wurde es vor der Fahrt mit Pferdefett eingeschmiert.
Bei Windstille griffen die Wikinger zum Ruder. Die größten Boote hatten davon bis zu 30 Stück auf jeder Seite. Viele Jahrhunderte später haben Menschen versucht, die Schiffe der Wikinger nachzubauen.
Erst im Sommer 2000 unternahm der Isländer Gunnar Eggertsson mit einem neunköpfigen Team auf dem nachgebauten Schiff "Islendingur" eine Jubiläumsfahrt über den Atlantik - schließlich hatte Leif Eriksson das vor rund 1000 Jahren vermutlich zum ersten Mal geschafft. Die Männer segelten in Island los, querten Treibeis, ohne Schaden zu nehmen, und kamen sechs Wochen später in Neufundland an. 16000 Menschen hatten sich an Land versammelt und jubelten, als die "Islendingur" anlegte und die todmüden Seefahrer von Bord gingen.
Berühmte Wikinger: Erik der Rote und Leif Eriksson
Erik der Rote und sein Sohn Leif Eriksson gelten als die wohl größten Entdecker unter den Wikingern. Erik allerdings ging nicht ganz freiwillig auf Tour: Als verurteilter "Totschläger" wurde er im Jahr 960 aus Norwegen verbannt. Zusammen mit seiner Familie segelte er nach Island.
Erik, wegen seines roten Haars "der Rote" genannt, erkundete von dort aus den Nordatlantik. Dabei landete er 982 auf einer eisigen Insel. Trotzdem nannte er sie Grönland - was auf Deutsch "Grünland" bedeutet. Mit dieser kleinen "Übertreibung" konnte Erik einige Wikinger überzeugen, mit ihm die größte Insel der Erde zu besiedeln. Bis zu 3000 Wikinger lebten auf Grönland in zwei kleinen Dörfern.
Eriks Sohn Leif wurde um das Jahr 970 geboren. Leif hatte von einem Isländer gehört, der im Sturm weit nach Südwesten abgetrieben worden war und behauptete, dort, am Ende des Atlantiks, habe er Land gesehen. Dorthin wollte er. Um das Jahr 1000 nahm sich Leif eine Mannschaft und segelte von Grönland nach Westen. Nach mehreren Tagen sahen die Männer tatsächlich Land - sie waren auf der Insel Neufundland direkt vor Amerika gelandet!
So war Leif wahrscheinlich der erste Europäer, der seinen Fuß auf amerikanischen Boden setzte - knapp 500 Jahre vor Christoph Kolumbus! Die Wikinger fuhren noch mehrere Male nach Amerika und bauten dort sogar Häuser, deren Reste Wissenschaftler im Jahr 1960 entdeckten. Am Ende blieben die Wikinger aber doch lieber in Europa. Die Indianer, die mit Pfeilen auf sie geschossen hatten, waren den Schwertkämpfern nicht geheuer.