Galin kreischt. Er donnert die Faust auf den graublauen Sitzsack, auf dem er hockt, und windet sich hin und her. Der Achtjährige ist wütend. Stinkwütend! Er will weiter mit dem Tablet spielen, doch seine Mutter lässt ihn nicht. Mischlingshund Charlie springt von seiner Decke auf und trabt zu dem Jungen, seine Krallen klackern auf den Fliesen. Er stupst Galin mit der Schnauze an, legt die weißen Pfoten auf dessen zappelnde Beine. Galin versucht, den Hund krähend wegzuschieben, doch Charlie bleibt unbeeindruckt auf ihm liegen. Und mit einem Mal wird Galin ruhiger. Sein Kreischen weicht einem Wimmern, seine Finger vergraben sich in das Lockenfell des Hundes. Nur Charlie gelingt es, den Jungen so zu beruhigen.
Galin ist frühkindlicher Autist, Teile seines Gehirns arbeiten nicht richtig. Ein gesundes Gehirn filtert aus all den Bildern, Gerüchen und Geräuschen, die ständig auf uns einprasseln, nur die wichtigen heraus. Den Rest bekommen wir gar nicht mit. Bei Galin dagegen funktionieren manche dieser Filter nicht richtig. Dadurch erlebt er vieles intensiver. Er sitzt etwa stundenlang in sich zurückgezogen im Garten und beobachtet, wie Erde oder Sand durch seine Finger rieseln. Zudem reagiert er besonders heftig, wenn er frustriert ist. Doch er kann seine Wut nicht mit Worten ausdrücken, denn wie viele frühkindliche Autisten kann Galin nicht sprechen.
Seit zwei Monaten aber lebt Charlie bei ihm. Der Goldendoodle, eine Kreuzung aus Golden Retriever und Pudel, ist ein speziell ausgebildeter Autismushund. Er hilft Galin im Alltag – zum Beispiel, indem er ihn beruhigt, wie eben.
Schmatzend liegt Charlie auf Galins Schoß und guckt zufrieden zu dessen Mutter Sabine. Die schiebt ihm ein weiteres Stück Entenbrust zu, als Belohnung. „Super gemacht, Charlie!“, sagt sie lächelnd.
Noch muss sie den Hund mit Leckerlis zu Galin locken, wenn er tobt und kreischt, denn Charlie ist noch nicht fertig ausgebildet. Zwei Jahre lang trainiert ein Assistenzhund, insgesamt 5000 bis 7000 Stunden. Drei Viertel hat Charlie schon geschafft. Nach gut einem Jahr Grundausbildung bei einer speziellen Trainerin bringt Galins Mutter ihm jetzt auf ihren Sohn zugeschnittene Kommandos bei: sich bei Wutanfällen zur Beruhigung auf ihn zu legen etwa, oder ihm auf Kommando die Schallschutz-Kopfhörer zu bringen, wenn dem Jungen die Umgebung zu laut wird.
Doch Charlies Unterstützung hat ihren Preis: Mindestens 12000 Euro müssen Familien für die Ausbildung eines Assistenzhundes hinblättern. Je nachdem, wie oft die Trainer nach der Grundausbildung noch vorbeikommen, kann sie insgesamt sogar bis zu 25000 Euro kosten. Galins Mutter hat das Geld gespart, nicht nur für Charlie. Auch sein großer Bruder Nurik ist Autist und hat einen Assistenzhund. Mutter Sabine übt selbst viel mit den Hunden, um sich deren Ausbildung leisten zu können. Charlies Trainerin Katharina Küsters muss die Familie daher nur alle paar Monate besuchen, um ungewohnte Situationen zu trainieren. So wie heute Nachmittag in einem Einkaufszentrum in Mönchengladbach.
Dort ist es laut und wuselig. Charlie muss lernen, die Umgebung auszublenden. Als die Familie die Trainerin am Eingang begrüßt, wedelt er wild mit dem buschigen Schwanz, springt auf Katharina Küsters zu und stemmt seine Vorderpfoten an ihre Brust. „Jaaaa, Charlie, haaaallo, ich freu mich auch, dich zu sehen!“, ruft die 41-Jährige. „Jetzt geht’s aber an die Arbeit.“ Galins Mutter schnallt dem Hund seine rote Arbeitsweste um – und Charlie ist wie ausgewechselt. Ruhig bleibt er neben Galin stehen.
„Trägt Charlie seine Uniform, weiß er genau: Jetzt bin ich im Einsatz“, erklärt Katharina Küsters. Dann lässt er sich nicht so leicht ablenken, führt Galin sicher durch den Verkehr und macht nicht einmal sein Geschäft, wenn er muss! An seinem ersten Tag bei Galins Familie hatte die Mutter vor Aufregung vergessen, ihm die Weste beim Spazierengehen auch mal abzunehmen. Also hat Charlie nicht gepinkelt – und später ins Haus gemacht.
Könnte jeder Hund seinen Job so gewissenhaft ausführen? Katharina Küsters schüttelt den Kopf. „Nur drei Prozent aller Hunde haben das Zeug zum Assistenzhund“, sagt sie. Schon beim ersten Eignungstest, den die Ausbilderin mit etwa sechs Wochen alten Welpen macht, erkennt sie, welche Tiere besonders lernfreudig und gleichzeitig entspannt sind.
Als die Familie samt Trainerin das Einkaufszentrum betritt, jauchzt Galin begeistert auf. Er hat eine Rolltreppe entdeckt! Galin liebt alles, was sich im Kreis bewegt. Das kann gefährlich werden. Ohne Charlie könnte Galin einfach in Richtung Rolltreppe laufen und im Kaufhausgewusel verloren gehen. Katharina Küsters kommt darum auf eine Idee: Charlie soll lernen, vor der Rolltreppe stehen zu bleiben. Über die Arbeitsweste und eine spezielle Leine ist er mit Galin verbunden. Charlie ist so schwer, dass der Junge ihn nicht einfach mitziehen und wegrennen kann.
Die Familie läuft auf die Rolltreppe zu, doch Charlie tapst einfach weiter und versteht nicht, was er tun soll. Beim zweiten Versuch interessiert er sich mehr für einen anderen Hund, der vorbeiläuft. Doch dann, beim dritten Versuch, bleibt Charlie vor den Stufen stehen. „Super!“, lobt Mutter Sabine und hält Charlie ein Stück Entenbrust hin. „Wir müssen schon noch viel üben, aber das lohnt sich“, sagt sie.
Bei ihrem älteren Sohn sieht sie bereits, wie gut ein Assistenzhund ihm und der ganzen Familie tut. Nurik hat eine andere Form des Autismus als Galin, das Asperger-Syndrom. Obwohl er sehr intelligent ist, fällt es ihm schwer zu verstehen, was andere denken und fühlen. Dadurch weiß er oft nicht, wie er sich im Kontakt mit anderen verhalten soll. „Nurik ist viel offener geworden, seit er seinen Königspudel Freddie hat. Er hilft mehr im Haushalt mit und geht öfter an die frische Luft“, sagt Mutter Sabine. Der 15-Jährige nimmt seinen Hund sogar mit in die Schule. „Die Ruhe des Hundes strahlt auf Nurik ab. Im Unterricht ist er nicht mehr so zappelig wie früher“, erzählt sie.
Genau so soll das bei Galin und Charlie werden, sobald der Goldendoodle fertig ausgebildet ist. Schon jetzt ist er für Galin ein ganz besonderer Freund. Am Nachmittag nach dem Training im Kaufhaus sitzt der Junge auf dem Sofa und blättert in einem Bilderbuch. Charlie trabt durch das Wohnzimmer, springt auf die Couch und macht es sich direkt neben Galin bequem. „Normalerweise darf sich niemand neben ihn setzen, wenn er liest, das wird ihm gleich zu viel“, sagt Nurik. Nur bei Charlie protestiert Galin nicht. Da ist es okay.