Angespannt blickt Rieke nach vorn. Für sie beginnen die wichtigsten fünf Minuten des Tages: Mit ihrer Hüfte liegt die 14-Jährige auf dem Sattel des Kunstrades, die Beine nach hinten gestreckt. Ihren Kopf hält sie knapp über dem Lenker, zwischen den Armen ihrer Partnerin Neele, die sich auf den Griffen des Lenkers in den Handstand stemmt. Musik schallt aus den Lautsprechern in der Sporthalle im nordrhein-westfälischen Lemgo. Ruhig und konzentriert lenkt Rieke das Rad im Kreis. Jetzt bloß keinen Fehler machen! Denn für jeden noch so kleinen Wackler bekommen die beiden bei den Junior Masters im Kunstradfahren von den Kampfrichtern Punkte abgezogen.
Eine Stunde zuvor: Rieke und Neele hocken nebeneinander auf einer Bank. Mit Kopfhörern im Ohr wiegen sie sich langsam hin und her, gehen ihr Programm in Gedanken noch einmal durch. Seit neun Jahren fahren die beiden Kunstrad beim Liemer RC, trainieren drei- bis viermal die Woche. Gemeinsam sind sie schon einmal Deutsche Meisterinnen und Deutsche Vizemeisterinnen geworden. In dieser Saison aber starten sie das erste Mal in der Altersgruppe der Juniorinnen, also bei den 14- bis 18-Jährigen. Wie ihre 18 Konkurrenzpaare in der Zweier-Disziplin haben sie den genauen Ablauf ihrer Kür bei der Jury eingereicht. Jede der einzelnen Übungen entspricht dabei einem festgelegten Schwierigkeitsgrad und damit einer bestimmten Punktzahl. Neele und Rieke können mit ihrem Programm heute maximal 119,20 Punkte erreichen. Doch schon ein leichter Wackler im Oberkörper, eine sogenannte Körperwelle, führt zu einem halben Punkt Abzug. Ein Auftippen mit dem Fuß kostet einen ganzen, ein Sturz sogar zwei Punkte. „Unser Ziel ist es, insgesamt weniger als zehn Punkte zu verlieren“, sagt Neele, während sie die Reifen und Pedale ihres Kunstrades noch einmal kritisch begutachtet.
Ihre Konkurrentinnen haben vorgelegt. Das Paar, das soeben sein Programm gezeigt hat, konnte 110,10 Punkte bis zum Ende des Programms retten. Um mindestens auf Platz vier zu landen, müssen Rieke und Neele die beiden schlagen. Noch sieht es gut aus für sie. Während die Mädchen fahren, wirft ein Projektor die aktuelle Punktzahl an die Wand hinter der Wettkampffläche: 118,75 stehen da, nach etwa einer Minute Fahrtzeit. Jetzt steigt Rieke auf Neeles Schultern. Die beiden breiten die Arme aus und fahren rückwärts im Kreis. Da passiert es: Neele soll die Fahrtrichtung ändern, wieder nach vorn treten, doch sie legt nicht genug Kraft in die Beine und kommt ins Straucheln. Neele kippt leicht zur Seite, muss mit dem Fuß aufsetzen und wirft Rieke ab. Ein Sturz – und das, obwohl der größte Teil der Kür noch vor ihnen liegt! Ein Raunen geht durch die Zuschauerreihen. „In dem Moment habe ich gedacht, nun ist eh alles gelaufen“, sagt Rieke später. Und tatsächlich: An der Wand leuchten nur noch 115,52 Punkte auf. Jetzt bloß nicht die Konzentration verlieren!
Trainerin Wibke Blome schiebt den Mädchen ein zweites Rad ins Feld. Denn nun beginnen die Übungen, die die beiden synchron auf zwei Rädern fahren. Neele und Rieke scheinen verunsichert. Weitere kleine Fehler schleichen sich ein. Bei Minute drei des Programms stehen nur noch 111,91 Punkte auf der Leinwand. Nun dürfen sie sich zwei Minuten lang kaum mehr einen Patzer erlauben. Und ihre „Zitterübung“ – eine Drehung – steht ihnen am Ende der Kür noch bevor! In den Proben am Vortag mussten die beiden an dieser Stelle häufig absteigen. Die Trainerin legt die Hände vor den Mund. Rieke und Neele steigen auf ihre Lenker, drehen sich auf den Hinterrädern um die eigene Achse – einmal, zweimal, dreimal. Geschafft! Fehlerfrei! Nach den unendlich langen fünf Minuten hüpfen die beiden erleichtert von den Rädern, schieben sie von der Wettkampffläche und blicken atemlos auf die Leinwand. Die Kampfrichter diskutieren noch, müssen sich auf ein Endergebnis einigen. Da endlich: 110,46 Punkte! Neele und Rieke fallen sich in die Arme. „Bis auf den Sturz hat alles gut geklappt“, sagt Rieke. Die kleinen Fehler dazwischen sind längst vergessen, und am Ende reicht es tatsächlich für Platz vier. „Wir haben über 110 Punkte geschafft“, freut sich Neele. „So gut waren wir noch nie!“