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Als der Dschungel beginnt, Angkor zu erobern, sind die letzten Bewohner der Stadt schon geflohen. Nur ein paar buddhistische Mönche harren Mitte des 15. Jahrhunderts noch im tropischen Wald aus. Algen und Flechten legen sich langsam wie ein dünner Film über die verschnörkelten Mauern von mehr als hundert Tempeln, über feine Sandsteinbilder von Tänzerinnen und Kriegern. Millimeter für Millimeter greifen nun die Wurzeln der Würgefeigen nach den mächtigen Quadern und schlingen sich wie die Arme eines Kraken um die Steine, die einst ohne Mörtel aufeinandergeschichtet worden waren. Verschieben sie, reißen Löcher, bringen Gemäuer zum Einsturz.
Lange Zeit unentdeckte Ruinen
Der Dschungel wuchert über die heiligen Stätten, bis sie fast vollständig von dichtem Grün bedeckt sind – und nahezu vergessen: Nur wenigen Einheimischen im Norden des heutigen Kambodscha ist in den kommenden Jahrhunderten bekannt, welche prunkvollen Bauten nahe dem Tonle-Sap-See unter Wildwuchs verborgen liegen. Und so staunt Henri Mouhot nicht schlecht, als er im Jahr 1860 während einer Forschungsreise auf die Ruinen der Tempelstadt stößt. Der Franzose ist nicht der erste Europäer, der nach Angkor reist. Aber seine Berichte und Zeichnungen machen die versteckten Tempelanlagen, die sogenannten Wats, in der ganzen Welt bekannt. Wissenschaftler beginnen, sich für die Bauten zu interessieren. Bald schon ist klar, dass Angkor einst der kulturelle und religiöse Mittelpunkt des Khmer-Reiches gewesen sein muss, das sich zwischen dem 9. und 15. Jahrhundert über weite Teile Südostasiens erstreckte.
Steckbrief: Angkor
Einst ein geschäftiger Ort
Ein Ort, an dem geschäftiges Treiben herrschte. Denn keine andere Stadt der Welt, so weiß man inzwischen, hatte damals eine größere Ausdehnung! Hier wateten Reisbauern durch die saftig-grünen Felder, setzten junge Pflanzen und ernteten sie drei-, viermal im Jahr. Marktfrauen priesen ihre Waren an, Pilger und Händler zogen durch die Stadt. Inmitten des quirligen Treibens standen die Palaststadt Angkor Thom und das Heiligtum Angkor Wat, das Zentrum der frühen Metropole – und ihr größter Tempelkomplex: Ein Wassergraben von 5,5 Kilometer Länge umgab den Prachtbau, seine Türme spiegelten sich darin. Manchmal waberte der Geruch von gebratenem Krokodilfleisch durch den Palast; stets eilten Dienerinnen herbei, um die Wünsche des Königs zu erfüllen; Apsara-Tänzerinnen umgarnten ihn.
Nur heilige Sätten aus Stein
Nur: Wo wohnten all diese Bauern, Dienerinnen, Handwerker? Schließlich haben Forscher bislang einzig heilige Stätten entdeckt – und die über den ganzen Dschungel verstreut. Die Antwort ist einfach: Steinerne Gebäude wurden nur für die Götter errichtet. Normale Menschen lebten in Holz- und Bambushäusern; manche waren mit Stroh gedeckt. In der tropischen Hitze des Urwalds verrotteten diese Materialien im Lauf der Jahrhunderte und verschwanden schließlich spurlos, nachdem ihre Bewohner Angkor verlassen hatten. Selbst Werkzeuge und Alltagsgegenstände sind kaum erhalten geblieben, weil die Khmer etwa Blätter als Schüsseln nutzten.
Über 1000 Quadratilometer besiedelt
Im vergangenen Jahr nun haben australische und französische Forscher herausgefunden, wie riesig Angkor tatsächlich war: Während seiner Blütezeit im 12. Jahrhundert waren mehr als 1000 Quadratkilometer besiedelt! Dank hochempfindlicher Radartechnik spürten die Wissenschaftler überwucherte Ruinen und verschüttete Strukturen im Boden auf. Mit Leichtflugzeugen untersuchten sie das Gebiet aus der Luft: Wo immer sie blasse Streifen oder Umrisse sichteten, marschierten sie – wieder am Boden – zu Fuß los. Und entdeckten so 74 "neue", alte Tempel, mehr als 1000 künstlich angelegte Teiche, dazu Überreste von Gräben und Kanälen. Gerade die waren einst wichtig gewesen, um die Hunderttausenden zu versorgen, die Angkor bewohnten. Denn dafür mussten die Khmer ausreichend Reis anbauen, und sie benötigten Wasser. Sämtliche Flüsse der Umgebung leiteten sie in ihr ausgeklügeltes System aus Kanälen und Staubecken, den "Barays", um. So sicherten sie die Bewässerung ihrer Felder – und sich selbst vor Hochwasser in der Regenzeit. Warum aber versank diese mächtige wie prächtige Stadt?
Der Niedergang der Hochkultur
Darüber rätseln Wissenschaftler schon lange. Sicher ist: 1431 überfielen Truppen aus dem benachbarten Siam, dem heutigen Thailand, Angkor und plünderten die Stadt. Doch wahrscheinlich begann der Zerfall der Metropole schon viel früher. Nach den Erkenntnissen des australisch-französischen Forscherteams waren vermutlich Umweltprobleme schuld am Niedergang der Hochkultur. Um genügend Reis für die stetig wachsende Bevölkerung anbauen zu können, mussten die Khmer immer neue Felder anlegen – und Unmengen Wald abholzen. Als es keine Wurzeln mehr gab, die den Boden hielten, wuschen die starken Niederschläge in der Regenzeit haufenweise Erde und Schlamm in die Kanäle der Stadt. Das Wasser floss nicht mehr, es stand. In Angkor breiteten sich Krankheiten wie Malaria aus. Immer mehr Menschen verließen die Metropole. Und der Dschungel holte sie sich zurück