Kerzengrade steht der Junge auf einem orangefarbenen Ball. Die Arme ganz dicht an seinen Körper gepresst. Hinter ihm und daneben sind weitere Bälle, auf denen Kinder so mühelos stehen, als würden ihre Beine auf der Oberfläche haften. "Ich gehe immer kleine Schrittchen nach oben", erklärt der schmale Junge mit den langen Beinen. Er heißt Iven und ist einer von gut zwanzig Kindern, die an diesem Nachmittag in einer alten Dosenfabrik in Hamburg-Altona Zirkusdisziplinen trainieren. Das Balancieren auf einer Kugel gehört dazu.

Der Raum der Zirkusschule "TriBühne" erinnert auf den ersten Blick an einen Ballettsaal. Stangen stehen an den Seiten. Es gibt Spiegel an den Wänden. Ungewöhnlich sind nur die Sachen, die die Kinder hier machen können. Das findet auch Iven. "Auf einer Kugel stehen, so hoch, das ist schon etwas Besonderes", sagt der Junge und hat die anderen Kinder dabei genau im Blick. "Was der Junge da macht. Das würde ich auch gerne können." Der Junge auf den er zeigt, ist Luca. Luca hält zwei Stöcker in den Händen. Mit diesen beiden schlägt er einen dritten hin und her. Devil-Sticks nennt sich dieses Zirkusgerät.


Luca kommt seit zweieinhalb Jahren einmal wöchentlich zum Training. "Jedes Mal habe ich einen neuen Trick gelernt", berichtet der 10-Jährige stolz. Ein paar von den Tricks, hat er sich selber ausgedacht. Andere hat er sich von Hobby-Artisten abgeschaut. "Die habe ich solange ausprobiert, bis ich sie konnte" und sogleich schnappt er sich sein Lieblingsgerät, das Diabolo, um ein paar von ihnen vorzuführen. Er schleudert den sanduhrförmigen Körper in die Luft, um ihn dann gekonnt aufzufangen. "Kleine Weltreise", nennt sich dieser Trick. Dann zeigt er den "Fahrstuhl", bei dem das Diabolo spielerisch an der Schnur nach oben gleitet. Unaufhörlich peitschen die beiden Stöcke in Lucas Armen hoch und runter. Schweiß läuft ihm von der Stirn. "Das ist wie eine Sucht! Wenn man erst mal angefangen hat, will man nicht mehr aufhören", erklärt der geschickte Junge.
Akrobat oder Jongleur?
"Die Kinder können hier nach und nach herausfinden, in welchen Zirkusdisziplinen ihre Stärken liegen und welche sie besonders mögen", sagt Holger de Vries. Seit 14 Jahren arbeitet er als Sportpädagoge. Das Besondere am "Zirkus-Sport" ist die Vielseitigkeit: "Anders als beispielweise beim Ballett ist die Ausbildung in einer Zirkusschule breit angelegt", meint de Vries.
Und so haben die Kinder, etwa bis sie zwölf Jahre alt sind "Zeit zu entdecken, ob sie eher Akrobaten oder Jongleure sind. In der Zeit danach dürfen sie sich dann spezialisieren". Anderthalb Trainingsstunden bleiben der Gruppe der Neun- bis Zwölfjährigen jede Woche dafür. Am Anfang jeder Stunde können die Kinder an die Zirkusgeräte, auf die sie Lust haben. Ein großer Teil des Unterrichts besteht darin, dass sich der Nachwuchs in sogenannten "Zirkusecken" ausprobiert, in denen sie jeweils von einem Trainer angeleitet werden. Jedes Mal werden drei Disziplinen besonders geübt.

ihr Geschick
Eine dieser "Zirkusecken" ist heute das Keulenwerfen. Damit hat selbst der kleine Jonglierkünstler Luca seine Probleme. "Du musst die Keule genau eineinhalb Drehungen werfen, damit der andere sie auch mittig greifen kann", erklärt Luca, dem die angeflogen kommende Keule erneut aus der Hand rutscht. "Mit Bällen können es einige schon.
Mit Keulen muss man lange üben. Das ist eines der schwierigsten Zirkusgeräte", erklärt Hannah und wirft erneut eine Keule in Richtung Luca. Die 21-Jährige gehört zu den ältesten Zirkusschülern und ist mittlerweile selbst als Jugendtrainerin tätig. In den einer anderen Ecken wartet eine "Trockenübungen" mit einer Stange auf sie, die später einmal durch Feuerfackeln ersetzt werden soll. Die letzte Übungen ist mit dem, vor allem bei den Jungs beliebten, Diabolo.

Auf einem Rad, in 1,40 Meter Höhe
Mädchen, so die Erfahrung der Trainer, begeistern sich eher für Hoch- oder Einrad fahren. So wie Laura, die wie viele der Mädchen zunächst auf einer Warteliste ausharren musste. Jungs, von denen es nicht ganz so viele gibt, haben es einfacher bei der Aufnahme. Der Tag an dem Training ansteht, ist für Laura "einer der wichtigsten Wochentage" geworden.
"Mir liegt das Einrad am Herzen", sagt die Fünftklässlerin. Einfacher zu fahren, sei allerdings das Hochrad. Und das will sie sie sogleich präsentieren. Allerdings ist das Aufsteigen auf das gut 1,40 Meter hohe Rad ein Kunststück für sich: Das quirlige Mädchen packt das Rad; lehnt den Sattel gegen eine Ballettstande; springt auf die Fensterbank; setzt sich auf den Sattel: dreht sich, um sich anschließend mit den Händen abzudrücken.
Sofort ist einer der Trainer zur Stelle, um Hilfestellung zu leisten. Dann demonstriert Laura wie "einfach" das Fahren damit ist. "Am Anfang war das wie ein Ping-Pong. Ich bin immer hin und her gefahren. Irgendwann wurde die Strecke immer länger", etwa zwei Monate brauchte Laura bis sie gelernt hatte ihr Gleichgewicht zu halten.

kleine Kunststücke

Im nächsten Monat bekommt jedes der Kinder zwei Nummern, die es für einen ganz besonderen Tag einübt: dem Auftritt vor Publikum! Zwei Mal im Jahr werden 90-minütige Märchenstücke aufgeführt, in denen die verschiedenen Zirkusgeräte zum Einsatz kommen: Diabolos und Einräder, aber auch Dinge wie Pois, im Schwarzlicht leuchtende Tücher, oder Rola Bolas, ein auf einer Rolle platziertes Brett, auf dem es die Balance zu halten gilt.
Doch bevor T-Shirts und Sporthosen gegen bunte Kostüme getauscht werden und es auf die Bühne geht, haben die Zirkusschüler der "TriBühne" noch Monate Zeit. "Alle präsentieren, was sie bis dahin geschafft haben, auch wenn die Nummer dann noch nicht perfekt klappt", sagt Trainer de Vries. Schließlich würden die Kinder hier nicht für eine professionelle Laufbahn im Zirkus ausgebildet, sondern für das Leben geschult. Im Rampenlicht dieses Kinderzirkus zu bestehen, kann auch in anderen Situationen ihres Alltags helfen, weiß Holger de Vries, etwa in der Schule oder später im Beruf. "Die Auftritte stärken ihr Selbstbewusstsein und geben Sicherheit."