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"Was ist das?", fragt die Lehrerin auf Englisch und hält eine Bildkarte hoch. "A tree", antwortet die 11-jährige Maja, "ein Baum". Die Lehrerin hakt nach: "Aber das ist doch mehr als ein Baum. Wie nennt man das?" "Oh ja, ich weiß es: Das ist ein Wald, a forest!", ruft die 13-jährige Sascha stolz dazwischen. Während die beiden Mädchen gemeinsam mit ihrer Lehrerin Monika englische Vokabeln pauken, sitzen am Nebentisch die älteren Schüler Nicolai, Saidou und Jegor in ihre Bücher vertieft. Über ihren Köpfen hängt eine Weltkarte an der Wand, in der Ecke stehen ein Computer, ein Skelett und ein randvoll gefüllter Bücherschrank. Vieles ist wie in jeder anderen Schule, aber manches ist ganz anders. Zum Beispiel, dass alle Schüler Hausschuhe tragen, die Lehrerin duzen und selbst darüber bestimmen können, wann sie Mathe oder Englisch haben.
Mini-Schule auf vier Rädern
Wir befinden uns im "fahrenden Klassenzimmer", der Zirkusschule des Zirkus FlicFlac. Die Mini-Schule befindet sich in einem geräumigen Wohnwagen und zieht mit dem Zirkus das ganze Jahr lang von Stadt zu Stadt. In diesem Schuljahr besuchen hier fünf schulpflichtige Kinder zwischen 8 und 15 Jahren sowie zwei 18-Jährige den Unterricht. Die Eltern der Schüler sind Artisten oder arbeiten als Ticketverkäufer und Büroangestellte im Zirkus. Ein Leben unterwegs - wie sich das wohl anfühlt?
Viel Reisen und neue Leute
"Ich finde es toll, beim Zirkus zu leben. Ich liebe das viele Reisen und kann ganz Deutschland erkunden. Und man lernt immer wieder neue Menschen kennen", erzählt der 15-jährige Nicolai mit glitzernden Augen. Er lebt seit sechs Jahren beim Zirkus FlicFlac und geht hier zur Schule. An einem normalen Tag hat er von 9 bis 14 Uhr Schule und nachmittags Training: Er trainiert Diabolo und Trapezkunst. Ein Diabolo ist ein Spielgerät bestehend aus zwei Stäben, zwischen denen eine Schnur gespannt ist, und einem Doppelkegel aus Gummi. Durch schnelle Bewegungen der Stäbe bringt man den Doppelkegel zum Rotieren, kann ihn in die Luft schleudern und andere Tricks durchführen. Auch die 13-jährige Sascha trainiert nach der Schule Diabolo und Jonglieren. Vita ist erst acht und macht bereits waghalsige Kunststücke an zwei Bändern, die in luftiger Höhe aufgehängt werden. Wenn sie mal groß ist will sie Artistin werden, genau wie ihre Eltern. "Es macht mir einfach Spaß, hier zu leben. Ich guck mir oft die Show an und alle meine Freunde sind hier."
Hobbies wie alle anderen
Keiner wird hier zum Trainieren gezwungen. Die 11-jährige Maja zum Beispiel hat keine Lust auf Akrobatik, ihr Traumberuf ist Ärztin. Nicolai dagegen kann sich gut vorstellen, weiterhin beim Zirkus zu bleiben und Zirkusartist zu werden. Doch auch die Schule verliert er dabei nicht aus den Augen: "Nächstes Jahr mache ich meinen Realschulabschluss. Und danach will ich über eine Fernschule Abitur machen. Und dann mal sehen, was kommt". In seiner Freizeit treibt der 15-Jährige gerne Sport wie Schwimmen, Basketball und Handball oder trifft sich mit Freunden. "Ich habe in ziemlich vielen Städten Freunde, und meine Familie ist sehr groß und lebt über ganz Deutschland verstreut. Es gibt eigentlich immer jemanden, mit dem ich etwas unternehmen kann."
fleißig mit seinem Diabolo
Schulfach: "Glück"
Die FlicFlac-Kinder müssen an sechs Tagen pro Woche zur Schule gehen. Sie sind an einer staatlichen Schule angemeldet, haben einen ganz normalen Lehrplan und die gleichen Schulbücher wie alle anderen Schüler auch. An dieser Schule können sie später auch ihren Realschulabschluss machen und die normalen Abschlussprüfungen mitschreiben. Allerdings genießen sie den großen Vorteil, dass an der FlicFlac-Schule der Stundenplan für jeden Schüler extra zusammengestellt wird – je nachdem, wo seine Stärken und Schwächen liegen. Außerdem stehen besondere Fächer wie "Glück" auf dem Programm.
Kein Mobbing im fahrenden Klassenzimmer
Sascha kommt aus Polen und ist dort früher auf eine normale Schule gegangen: "Ich hab das fahrende Klassenzimmer wesentlich lieber als die andere Schule", erzählt sie. Nicolai ist froh darüber, dass an der kleinen Schule der Zusammenhalt viel stärker ist als an normalen Schulen: "Es gibt hier überhaupt kein Mobbing, wir lösen Probleme gemeinsam. Und ich finde es klasse, dass Nick eine Lehrerin ist, der man so gut vertrauen kann."
Jeder Einzelne zählt
Genauso begeistert ist Zirkusschullehrerin Monika Berlin von ihrer Arbeit. Sie kam durch Zufall zum Zirkus FlicFlac und hatte nie vor, länger als ein Jahr zu bleiben. Inzwischen ist sie seit neun Jahren an Bord und der Spaß am Unterrichten ist geblieben: "Ich kann mich hier um jeden Einzelnen kümmern. Hier lernen die Kinder von Anfang an, selbst lernen zu wollen. Die Arbeit mit den Kindern macht riesig Spaß und bringt mich selbst voran."
Dass die verschiedenen Altersklassen im gleichen Raum unterrichtet werden müssen, ist dabei kein Problem. Im Gegenteil: "Jede Woche müssen die Schüler Referate halten. Dabei lernen die Kleineren schon jede Menge dazu, weil sie ja auch den Referaten der Älteren zuhören."
Doch vor dem nächsten Referat ist jetzt erstmal große Pause angesagt, in der die Schüler ihr Pausenbrot schnell "zu Hause" im Wohnwagen der Eltern abholen gehen können. Sascha klappt ihr Englisch-Vokabelheft zu und räuspert sich. Dann zählt sie leise bis drei und ruft laut durch den Schul-Wohnwagen: "Pauuuuuse!" Denn eine Schulklingel gibt es im fahrenden Klassenzimmer nicht.
Infokasten: Zirkus FlicFlac
Der Zirkus FlicFlac wurde 1989 gegründet und war der erste Zirkus in Deutschland, der ganz auf Tiere verzichtete und von Anfang an auf ein Programm aus Akrobatik, Tempo, Stunts und Action setzte. Zirkus FlicFlac tourt ununterbrochen durch Deutschland und macht in allen größeren deutschen Städten Halt. Alle zwei Jahre gibt es ein neues Programm mit einer ausgefeilten Bühnen- und Lichtshow. Das aktuelle Programm "Underground" ist für Zuschauer ab zwölf Jahren empfohlen und nichts für schwache Nerven. Zirkus FlicFlac ist laut, schrill und düster und hat nichts mit traditionellen Zirkussen gemeinsam. Die Akrobaten sind Spitzen-Künstler aus aller Welt, die es immer wieder darauf anlegen, dem Publikum den Atem zu rauben.