Inhaltsverzeichnis

Der Weg von Syrien nach Deutschland
Es gab eine Zeit, gar nicht lange her, da war alles gut. Familie Alhays wohnte in Dayr az-Zawr, einer Stadt im Osten Syriens. Ein Eckhaus, vier Stockwerke, Marmorböden. Im Garten wuchsen Orangen und Oliven.
Dort grillten sie und aßen selbst gebackenes Fladenbrot. Vater Khaled sagt: "Wir hatten ein tolles Leben in Syrien." Doch dann kamen die Flugzeuge, die Bomben, die Kämpfer, der Hass, das Leid, der Krieg.
Im Jahr 2011 wehren sich immer mehr Syrer gegen den grausamen Herrscher Baschar al-Assad. Viele Parteien mischen sich in den Bürgerkrieg ein - auch die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS). Sie will in Syrien strenge religiöse Gesetze durchsetzen. In Dayr az-Zawr liefert sie sich blutige Kämpfe mit Regierungstruppen.

Die Alhays haben sechs Kinder. Haya und Abdul Nasir sind eben erwachsen geworden und studieren. Ahmad und seine Schwestern Hadel und Massa gehen zur Schule.
Und Zakariya, der Kleinste, lernt gerade sprechen, als damals der Krieg beginnt. Wenn nachts die Schüsse durch die Straßen hallen, liegen alle Kinder wach.
Manchmal kauern sie sich auch ins Badezimmer. Das liegt, halbwegs geschützt, in der Mitte der Wohnung.
Die Flucht aus Syrien
Vater Khaled ist Händler und besitzt ein paar Läden - sie werden alle zerstört. Mutter Nahid arbeitet als Krankenschwester und schiebt Extraschichten. Immerzu gibt es neue Verletzte, immerzu. Weil die Schule oft geschlossen ist, bekommen die Kinder zu Hause Nachhilfe. Was würde denn aus ihnen werden, wenn sie nicht lernen?
Bald gelangen keine Lebensmittel mehr in die Stadt. IS-Kämpfer haben sie abgeriegelt, um ihre Macht zu zeigen. Die Alhays zahlen nun Wucherpreise für Gemüse. Es gibt kaum Fleisch mehr und in der ganzen Stadt keine Seife. Vater Khaled kommt ein schlimmer Gedanke: Wenn wir nicht erschossen werden, sterben wir vor Hunger.
Die Familie muss fort. Eines Tages, Ende Juni 2015, schnappen sich die acht ein paar Kleider, alle Wertsachen und ihre Handys – mehr Gepäck wäre zu auffällig. Mit dem Auto schaffen sie es in die nächste kleine Stadt. Zwei Wochen, dann fürchten sie sich auch dort. Die Alhays verkaufen ihr Auto und den Goldschmuck von Nahid. Sie ziehen weiter."Mama, wohin gehen wir?", fragen die Kinder. "In ein anderes Land, da geht es uns besser."

bis zur Küstenstadt Bodrum
Mehr als 6,5 Millionen Syrer irren derzeit als Flüchtlinge durchs eigene Land. 4,3 Millionen haben es bereits verlassen, fast jeder fünfte Einwohner. Die meisten suchen in der nahen Türkei Schutz. Einige Städte dort zählen inzwischen mehr Flüchtlinge als Einheimische.
Zwischenstation in der Türkei
An der Grenze zur Türkei stehen ein Zaun und strenge Polizisten, die längst nicht mehr jeden Flüchtling durchlassen. Tausende drängeln sich hier. Die Alhays wollen weiter, irgendwie. Als die Polizisten ihre Schicht wechseln, zwängen sie sich unter dem Zaun hindurch.
Die Beamten erwischen sie, da stehen die Kinder schon auf der türkischen Seite, die Eltern noch in Syrien. Massa und Hadel beginnen zu weinen. Schnell krabbeln alle wieder zurück. Erst beim dritten Versuch schafft es die ganze Familie in die Türkei.
Eine Kleinstadt hinter der Grenze: Zwei Wochen hausen die Alhays hier im Freien, finden keine Arbeit, keine Wohnung. In Deutschland, hören sie immer wieder von anderen, muss niemand auf der Straße schlafen. Also machen sie sich auf die Reise. Steigen in Busse, gehen zu Fuß, durchs halbe Land. Dann stehen sie am Strand von Bodrum, am Mittelmeer. Wie schön das glitzert…

Zwischen Bodrum in der Türkei und der griechischen Insel Kos, mitten im Meer, liegt die Grenze zu Europa. Die Entfernung beträgt keine zehn Kilometer.
Allein schaffen es die Alhays niemals nach drüben. Und eine Fähre nähme sie nicht mit, sie haben ja kein Visum. Und nun? In Bodrum gibt es viele Männer, die sagen, sie könnten helfen. Sie verkaufen den Flüchtlingen Schwimmwesten und Plätze auf ihren Booten.
Die Europa-Polizei "Europol" schätzt, dass 30.000 Menschen Geschäfte damit machen, Flüchtlinge nach Europa zu schmuggeln. Solche Leute nennt man Schlepper.

Familie Alhays überlegt drei Tage. Dann bezahlt sie umgerechnet 1200 Euro pro Person, für den Mittelkleinen Zakariya den halben Preis. Viel Geld – für acht Plätze auf einem Schlauchboot, zusammen mit 35 anderen Flüchtlingen.
Rund 630 000 Menschen haben die Grenze nach Europa dieses Jahr heimlich überquert. Mehr als die Hälfte wagte die gefährliche Bootsfahrt von der Türkei nach Griechenland.
Der 28. Juli. Es ist fast Mitternacht, als das Schlauchboot ablegt. Draußen auf dem Meer pfeift der Wind, Wellen schwappen ins Boot. Es schaukelt furchtbar. Auf dem pechschwarzen Wasser treiben Rettungswesten. Die Alhays hören Schreie. Sie haben schreckliche Angst.
Mindestens 3000 Flüchtlinge sind in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken. Die genaue Zahl kennt niemand.
Auf der Flucht: Kurze Rast in Griechenland

Drei Uhr morgens, das Ufer, Griechenland. Zakariya fragt: "Sind wir jetzt in Deutschland?" Er ist doch schon so weit weg von zu Hause. Für 40 Euro kaufen die Alhays ein Zelt und schlagen es in einem Park auf. Eine fremde Frau schenkt ihnen neue Kleider. Bei ihr duschen dürfen sie auch.
Eine Woche Pause, dann geht es weiter. Ihr Zelt überlassen die Alhays den nächsten Flüchtlingen, es kommen so viele. Die Familie nimmt die Fähre in die griechische Hauptstadt Athen, dort den Bus. Sie erreicht am 6. August die mazedonische Grenze.
Das letzte Stück gehen sie zu Fuß. Es gibt dort zwar keinen Zaun, aber vielleicht Polizisten. Und die könnten sie festnehmen. Im Zug, weiter Richtung Serbien, stehen, sitzen, liegen so viele andere Flüchtlinge in den Abteilen, völlig erschöpft. Für die überteuerten Fahrkarten geben viele ihr letztes Geld.

Seit die Flüchtlingsmassen kommen, kostet eine Fahrkarte quer durch das kleine Mazedonien nicht mehr 6,25 Euro, sondern 25 Euro.

Nun also Serbien, 60 Kilometer bis zur Hauptstadt Belgrad. Die Alhays laufen, humpeln, bis die Schuhe kaputt sind. Ein letztes Stück gehen sie barfuß, erzählen sie. In Belgrad kaufen sie ein, ausnahmsweise, sie sind so hungrig. Als sie sich in einem Park ausruhen, spricht sie ein Mann an und bietet ihnen eine Wohnung an. 250 Euro will er für eine Nacht haben!
Damit sie sich das leisten können, tun sich die Alhays mit anderen Flüchtlingen zusammen. Mit 17 Personen schlafen sie in der Unterkunft. Der nächste Tag, der nächste Bus. Er bringt sie an die Grenze zu Ungarn.
Ungarn will keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Die Regierung lässt an der Grenze zu Serbien einen Zaun ziehen: 175 Kilometer lang und vier Meter hoch. Wer vorher noch durchwill, muss sich beeilen.

Die Alhays folgen den Bahngleisen. Im Wald könnten sie sich verlaufen. Kurz vor der Grenze warten sie auf die Dunkelheit, als wären sie Verbrecher. Bloß nicht der Polizei in die Arme laufen! Sie schleichen weiter, unbemerkt, Gott sei Dank. In Ungarns Hauptstadt Budapest schaffen sie es noch, dann geht ihnen das Geld aus. Sie schlafen auf der Straße, zugedeckt mit Pappkartons.
Die Rettung: Der Bruder von Vater Khaled überweist Geld. Damit leisten sich die Alhays für zwei Nächte ein Hotelzimmer, erholen sich, duschen, essen - und bezahlen wieder einen Schlepper.
Der fährt sie in die Nähe von Österreich. Ein anderer bringt sie nach Wien, der nächste nach Passau - endlich eine deutsche Stadt. Doch die Alhays wissen das nicht. Sie nehmen den Zug nach München, werden weitergeschickt nach Hamburg.
Dort angekommen, verbringen die Alhays noch eine Nacht im Hauptbahnhof. Dann erzählen ihnen Leute von einem Flüchtlingslager, gar nicht weit, dort gibt es Hilfe. Die Familie ist endlich am Ziel! Es ist der 13. August 2015.

Mit nichts als ihren Kleidern am Leib ziehen die Alhays in ein großes, weißes Zelt. Rund 2600 andere Flüchtlinge leben mit ihnen hier im Lager, dicht an dicht. Immerhin: Sie bekommen zu essen, neue Kleidung, ein Springseil für Massa, Inline-Skates, die Hadil passen, einen Fußball für Zakariya. "Die Deutschen sind freundlich", sagt Mutter Nahid.
Die Hälfte aller Deutschen hat dieses Jahr schon etwas unternommen, um Flüchtlingen zu helfen. 21 Prozent spendeten Geld, mehr als jeder Fünfte.
Fast zwei Monate hat die Flucht der Alhays gedauert. Sie haben ihre Heimat verlassen, acht Länder durchquert und dabei knapp 5000 Kilometer hinter sich gebracht. Und nun? "Wir wollen einfach nur noch Frieden."
Familie Alhays' Neuanfang in Deutschland
Ihr möchtet wissen, wie es für die Familie Alhays weiter ging? Das zeigen wir euch in dieser Fotostrecke: