Es gibt im Lande Alifbay eine traurige Stadt. Genauer: die "traurigste von allen Städten, so todtraurig, dass sie sogar ihren Namen vergessen hatte". In ihren Fabriken wird tagein tagaus "Traurigkeit produziert, verpackt und in alle Welt verschickt". – Eigentlich ein Wunder, dass die Stadt nicht schon längst unter der Last ihrer eigenen Schwermut zusammengebrochen ist.
Das Genie der Phantasie
Wer würde vermuten, dass ausgerechnet an diesem dunklen Ort ein Geschichtenerzähler lebt, der über alle Landesgrenzen von Alifbay hinaus für seine Heiterkeit bekannt ist? Seinen Bewunderern gilt Raschid Khalifa als "Genie der Phantasie". Seine Neider dagegen nennen ihn hämisch den "Schah von Blah".
Beginnt Raschid zu erzählen, so bleiben selbst „die vielen umherstreunenden Kühe der Stadt stehen und spitzen ihre Ohren, während die Affen auf den Hausdächern anerkennend schnattern und die Papageien in den Bäumen seine Stimme nachahmen“. So hätten wohl weder die Bewunderer, noch die Neider, Kühe, Affen und Papageien je damit gerechnet, dass die Quelle von Raschids Geschichten einmal versiegen könnte. – Aber genau das geschieht!
Redeverbot
Der indisch-britische Autor Salman Rushdie hat mit seinem Roman "Harun und das Meer der Geschichten" eine Parabel auf sein eigenes Leben geschrieben. Denn wie seine Romanfigur Raschid, so lebte auch Rushdie über zehn Jahre lang in den wohl traurigsten Städten der Welt: dem Londoner und New Yorker Untergrund. Der Auslöser war ein Todesbann (genannt Fatwa), den der damalige iranische Staatschef Khomeini im Jahr 1989 gegen den islamkritischen Autor ausgesprochen hat. Mit dieser Morddrohung sollte der Autor für das "gotteslästerliche" Buch "Die satanischen Verse" bestraft und zum Schweigen gebracht werden. Salman Rushdie ist inzwischen 67 Jahre alt und hat zahlreiche weitere Bücher veröffentlicht. Aber eine große Zahl von Übersetzern, Verlegern und Journalisten, die dem politisch verfolgten Autoren über die Jahre hinweg die Treue gehalten haben, mussten dafür mit dem Leben bezahlen.
Der Fürst des Schweigens
So schickt Salman Rushdie in seinem Roman "Harun und das Meer der Geschichten" seine beiden Helden - den Geschichtenerzähler Raschid und dessen kleinen Sohn Harun – in den Kampf gegen den Fürsten des Schweigens. Der Despot Khattam-shud hat in seinem Reich Gup City alle Theater, Schulen und Bibliotheken schließen lassen. Aber damit nicht genug: Auch das Sprechen ist in Gup City streng verboten und zum Zeichen ihrer Treue zu Khattam-shud haben sich viele Bewohner des Landes den Mund zugenäht.
Erzählwasser
Wie es der Zufall will liegt Gup City jedoch ausgerechnet am Quell des Meeres der Geschichtenströme. Von hier bezieht Raschid per Abonnement sein Erzählwasser, ohne das seine Zunge wie gelähmt ist: In ihrer flüssigen Reinform behalten die Geschichten nämlich ihre "wundersame Fähigkeit sich zu verändern, sich in neue Versionen ihrer selbst zu verwandeln, sich mit anderen Geschichten zu vereinen und dadurch zu wieder neuen Geschichten zu werden." - Doch Khattam-shud hat damit begonnen, das Meer der Geschichten, diese wogende Bibliothek, zunächst zu vergiften, um sie dann zum Austrocknen zu bringen. Sollte dem Erzfeind der Erzählungen sein Vorhaben gelingen, wäre nicht nur Raschids Erzählkunst in Gefahr...
Fazit:
"Wozu sind Geschichten gut, die nicht einmal wahr sind?", fragt sich der kleine Harun. Und doch zieht er aus, seinen aus der Stummheit zu retten. Salman Rushdie hat seinen Roman "Harun und das Meer der Geschichten" seinem damals elfjährigen Sohn Zafar gewidmet. Während Zafar auf einem anderen Teil der Erde aufwächst, versucht ihm der Vater aus dem Exil einen wichtigen Gedanken näher zu bringen: Als Vertreter des Magischen Realismus ist Salman Rushdie davon überzeugt, dass das Wunderbare ein Teil unseres Alltags ist. Frei nach dem Motto: "Das Wirkliche ist zauberhaft und das Zauberhafte ist wirklich".
Über den Verstand kommt man da natürlich nicht weit. So muss der kleine Romanheld Harun auch erst einmal lernen, nicht allein auf seine Augen zu vertrauen: "Wie viel hast du denn überhaupt schon gesehen? Afrika – hast du das etwa gesehen? Nein? Existiert es des deswegen etwa nicht? Und U-Boote? Eh?" Angesichts solcher Argumente legt Harun schon bald seine anfängliche Skepsis gegenüber dem Phantastischen ab und stürzt sich mitten ins Abenteuer: begleitet von so merkwürdigen Gestalten wie Wasser-Dschinns, Vielmaulfischen, Schwimmenden Gärtnern, sprechenden Eierköpfen und lebendigen Schatten. – Gegen Haruns Phantasie ist selbst der Fürst des Schweigens machtlos.
Salman Rushdie: „Harun und das Meer der Geschichten“, ab 12 Jahren, Rowohlt, 8,95 Euro