Der Einsatzbefehl kommt etwa eine Stunde vor Mitternacht. "Jugendgruppe, aufsitzen! Ein Notruf!", schallt es durch den Flur des THW-Quartiers im hessischen Korbach. Katharina und Jan, die eben noch im Mannschaftszimmer gedöst haben, springen auf, greifen nach Jacke, Helm und Handschuhen und rennen raus zu den Einsatzwagen.
Was wohl passiert ist, fragen sich die 15 Jungen und Mädchen, als sie mit Blaulicht durch das nächtliche Korbach fahren. Ein schwerer Verkehrsunfall? Eine Überschwemmung? Braucht die Feuerwehr Unterstützung? In solchen Fällen werden die Spezialisten des Technischen Hilfswerkes (THW) gerufen. Als im August 2002 die Elbe über die Ufer trat, pumpten die Freiwilligen vom THW überflutete Keller leer und versorgten Krankenhäuser mit Notstrom. In Indonesien bauten die Helfer nach der Tsunami-Katastrophe Anlagen zur Aufbereitung von Trinkwasser auf. Und im THW-Ortsverband Korbach lernen die Mitglieder sogar klettern - falls mal ein Techniker auf einem der hohen Windräder verunglückt, die überall im Landkreis stehen. Die Einsatzwagen halten auf einem großen Hof.


In der Dunkelheit zeichnen sich die Umrisse von Eisenbahnwaggons ab. "Dieser Zug ist verunglückt. Es gibt Verletzte. Wie viele, wissen wir nicht", ruft der Gruppenleiter. Ohne Zeit zu verlieren, teilt sich die Jugendgruppe in drei Trupps auf. Der erste greift zu den Verbandstaschen. Der zweite soll auf dem Hof Lichtmasten aufstellen, um den Unglücksort auszuleuchten, der dritte eine Rampe aufbauen, damit Verletzte leichter aus dem Zug getragen werden können.
Katharina und Jan gehören zu den Sanitätern und klettern in die Waggons. Kaum haben sie die Tür geöffnet, hören sie ein Wimmern aus einem Abteil. Im Schein ihrer Taschenlampe entdeckt Katharina eine junge Frau, an deren Bein eine rote Flüssigkeit hinabläuft...
Es ist - Theaterblut! Und das Zugunglück nur eine Übung. Doch Katharina reagiert, als wären die Schmerzen der Schauspielerin echt. "Ganz ruhig. Sie müssen jetzt keine Angst mehr haben", sagt sie zu der "Verletzten". Dann kniet sich die Zwölfjährige hin, begutachtet die "Wunde" und beginnt, das blutende und anscheinend gebrochene Bein zu verbinden.


Wie sie Verletzen helfen kann, lernt Katharina bei den Gruppentreffen der THW-Jugend. Jeden Samstag üben die zehn- bis 18-jährigen Jungen und Mädchen, worauf es bei einem Notfall ankommt: Wie werden gebrochene Arme geschient, wie zwei Schlauchenden miteinander verbunden? Wo sind Äxte, Schrauben, Sägen und Schweißgeräte im Einsatzwagen verstaut? Bei der großen Nachtübung können alle zeigen, was sie behalten haben.
"Ich brauche einen zweiten Sanitäter!", ruft Katharina durch den Waggon. Doch ihre Bitte geht im Getümmel unter. Laura versucht, einen "Betrunkenen" zu beruhigen. Jens und Jan gehen auf die Suche nach weiteren Fahrgästen. Und draußen wächst im Licht des ersten Flutlichtstrahlers das Grundgerüst der Rampe.
"Insgesamt drei Verletzte und ein Betrunkener!", meldet Jan wenig später dem Gruppenleiter. Der Zehnjährige kommt seit einem halben Jahr zum THW. Mit Begriffen wie Erste Hilfe, Mastwurf-Knoten oder Schlauchgrößen kann er deshalb noch nicht viel anfangen. Doch er hilft, wo er kann. Beim Pumpentraining rollt er Schläuche aus, bei der Verschüttetenübung lauscht er nach Kratzgeräuschen möglicher Opfer und lernt so jedes Mal dazu. Genau wie jetzt im Zug.
Während die Frau mit dem "gebrochenen" Bein auf einer Trage vorsichtig aus dem Waggon gehoben wird, soll Jan auf ein Mädchen achten, das äußerlich unverletzt scheint. Doch blass und merkwürdig schwankend sitzt es da und starrt ins Leere. "Sie hat einen Schock. Du solltest dicht neben ihr stehen, damit du sie stützen kannst, falls sie plötzlich umkippt", rät der 17-jährige Jens, einer der Älteren in der Jugendgruppe. "Sprich mit ihr! Frag sie, wie sie sich fühlt." Jan versucht es: "Bist du irgendwo gegengeknallt? Musst du brechen? Kannst du laufen?" Fragen über Fragen stellt er. Zuerst ganz leise und zögernd, dann immer deutlicher und selbstbewusst. Bis die Schwerverletzten abtransportiert sind und er das Mädchen als Letzte über die Rampe nach draußen führen kann.


Als alle Fahrgäste in Sicherheit sind, beginnt Katharina, über die aufregende Nacht nachzudenken. "Im ersten Moment ist es ungewohnt, wenn wir reinkommen, das Blut sehen und alle schreien. Aber dann fängt man sich schnell und legt los", sagt sie. Wenn sie 18 Jahre alt ist, möchte Katharina die THW-Prüfung ablegen, um dann auch bei echten Notfällen helfen zu dürfen. Eines, sagt sie, habe aber auch diese Übung wieder bewiesen: "Wer beim THW mitmachen möchte, muss Freundschaften knüpfen können. Denn wenn man allein ist, bringt das nicht viel. Wir machen alles zusammen." Und Jan ist überzeugt: "Noch üben wir nur. Aber im Ernstfall können wir das alles viel, viel schneller."