Schon wieder ein Tag an dem ich alleine war. Alle waren zum Mittagessen in die Stadt gegangen oder in der Cafeteria verschwunden. Warum konnten sie sich nicht einfach wie ich ein Brot oder so etwas mitbringen? Ich seufzte. Das Schulhaus war wie ausgestorben. Was sollte ich hier alleine schon tun? Na klar!
So schnell ich konnte lief ich aus dem Treppenhaus in unser Klassenzimmer, das glücklicherweise nicht verschlossen war. Schnell lief ich zu meiner Tasche und nahm meinen Zeichenblock heraus. Dazu mein Mäppchen und ein Lineal für alle Fälle. Ich kehrte zu meinem Lieblingsfensterbrett und packte meine Sachen aus. Das Sketchpad war noch fast leer. Auf der ersten Seite hatte ich zwei Fechter in einer Höhle gemalt. Einen Jungen und einen Faun. Als meine koreanische Freundin Ji Su das Bild gesehen hatte, hatte sie mich gefragt ob das Prinz Kaspian sei. Erst in dem Augenblick war mir das aufgefallen. Dann hatte ich verneint und ihr erklärt, dass es nicht Kaspian, sondern Ramón sei. Diese Erklärung hatte Ji Su zwar verwirrt, aber so war ich eben, niemand wunderte sich darüber.
Ich fand eine leere Seite. Einmal atmete ich durch, dann vertiefte ich mich in meine Zeichnung. Vorsichtig begann ich in der Mitte des Bildes ein Augenpaar zu skizzieren. Darunter eine Nase. Die Haare waren länger und fielen dem Jungen ins Gesicht.
Ja, ich war einsam. Zu einsam. Ich wünschte mit nichts anderes, als jemand, der mich verstand und mit dem ich reden konnte.
"Nein, lass das!"
Ich schreckte von meiner Zeichnung auf und sah mich um. Hatte da jemand gesprochen? Das Treppenhaus war leer und nirgends war jemand zu sehen oder zu hören. Und doch war ich mir sicher, dass da jemand gesprochen hatte. Doch gerade als ich den Bleistift wieder ansetzte, kam es mir so vor, wie wenn das Bild sich verändert hätte. Die Augen waren weiter geöffnet. Und jetzt blinzelten sie sogar!
Ich war unfähig mich zu bewegen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich das Bild an.
"Was ist denn los?", fragte mich das Bild überrascht.
"Du … du – du kannst reden?" Ich war baff. Das war mir noch nie passiert, dass ein Bild mit mir sprach. Das mit dem bewegen, das war mir schon mal passiert, und selbst da war es nur Einbildung gewesen, aber jetzt sprach das Bild sogar!
"Natürlich kann ich reden, du doch auch!"
"Aber ich bin keine schwarz-weiß Zeichnung auf Skizzenpapier!"
Das Bild seufzte. "Sieh es doch einfach so: Ich bin in einer anderen Welt, und du siehst gerade durch ein Tor." Das klang plausibel, aber immer noch verrückt.
"Und was soll ich jetzt machen?"
"Hol mich durch."
"Und wie bitteschön?"
"Ganz einfach", erklärte die Zeichnung geduldig. "Küss mich!"
Eine Zeichnung küssen? Wie verrückt war das denn? Es war zwar nur eine Zeichnung, aber was wenn nicht? Warum dachte ich eigentlich überhaupt darüber nach?
"Nun mach schon?"
"Und was habe ich davon?"
"Jemanden zum reden, wie du es dir gewünscht hast."
Da also wehte der Wind her. Aber wenn die Zeichnung unbedingt wollte, warum nicht. Ich holte tief Luft, schloss meine Augen und presste meine Lippen auf das Papier. Und während ich das tat, spürte ich die Veränderung. Das Papier wurde weniger hart und rau und mein Gesicht wurde nach oben gezogen. Als ich endlich meine Lippen lösen und meine Augen öffnen konnte, stand vor mir ein Junge, nur wenige Jahre älter als ich und lächelte mich an. Er sah genauso aus, wie ich mir Ramón vorgestellt hatte.
"Patty, wo bist du?"
Ich schrak zusammen und verlor die Konzentration auf den Jungen. Der begann sogleich sich aufzulösen.
"Nein! Bleib hier!"
"Ich komme wieder!", hörte ich seine Stimme leise und verzerrt.
Ji Su kam die Treppe rauf gerannt. "Ich hab dich überall gesucht. Malst du schon wieder?"
"Ja", lächelte ich und packte meine Sachen zusammen. Gemeinsam gingen wir die Treppe hinunter. Ich hielt mein Zeichenbuch an mich gepresst, als wollte ich es nie mehr loslassen. Irgendwann würde ich ihn wieder in diese Welt holen, und dann würde er länger bleiben dürfen, das schwor ich mir.