Die Begegnung (Barbara Nemec, 16 Jahre)

"Wie gesagt, Elvira" sagte Frau Kemper, ihre Finger trommelten wie immer leicht nervös auf das Klavier, ein Luftzug des offenen Fensters bewegte ihr weites, tief orangefarbenes Kleid. "Du solltest das Rondo auf jeden Fall bis Donnerstag auswendig können. Denk an die Prüfung." Und mit diesen Worten lächelte sie mich an, wie sie es in solche Situationen tat. Und wie immer wusste ich nicht, was ihr lächeln bedeutete. Sorge? Wut? Hoffnung? "Ja" sagte ich schnell und griff nach der Türklinke. "Auf Wiedersehen, Frau Kemper" und ich verschwand auf dem Gang. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte als immer nur Klavierspielen! Aber was blieb mir anderes übrig?

Ich war ganz in Gedanken versunken und erschrak daher umso heftiger, als ich gegen ein kleines Mädchen rannte. Nicht nur das, ihre ganzen Noten flogen herunter. Schei…benkleister! Typisch ich. "Tut mir Leid" murmelte ich und bückte mich um die Notenblätter wieder einzusammeln. Plötzlich stockte ich. Ich hielt genau das Stück in der Hand, das Jahrelang mein Lieblingsstück gewesen war: Oh Susanna. Über dem Titel stand in Kinderschrift: von Stephen Forster. Meine Schrift. Mein Blatt Papier. Es war die Schrift, die ich vor ca. 6 Jahren gehabt hatte. Und genau das war immer über den Noten geprangt. Wie kam es hierher? Schnell sammelte ich die restlichen Blätter auf und drückte sie dem Mädchen geistesgegenwärtig in die Hand. "Sag mal …" ich überlegte "das Stück hier … magst du es?" Und erst da sah ich dem Mädchen wirklich ins Gesicht. Ich erschrak. Das Mädchen hatte Sommersprossen, blonde Haare, grüne Augen und eine schmale Nase. Genau wie ich. Und nicht nur das, als ich sie ansah durchströmet mich ein seltsames familiäres Gefühl. Auch die Erinnerung an alte Fotos kam mir. "Wie geht das? Wie ist ... das möglich?" die Gedanken rasten durch meinen Kopf, mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Ich war es. Ich war das Mädchen ... und das Mädchen war ich. Das Mädchen war mein 6 Jahre jüngeres ich. Oder nicht? Aber da wischte mir eine Entdeckung alle Zweifel weg: das Mädchen trug meinen alten Mantel, der zu Hause in meinem Kasten verstaubte. Und auf ihm der Aufnäher mit der Katze. Sie … nein ich … also ... mein jüngeres ich ... schaute mich an. Ich war schon immer etwas ungeduldig gewesen. Das sah man ihr an. Vermutlich hatte sie mir schon längst geantwortet. Aber auch in ihren Augen flackerte ein Licht. Als hätte sie mich erkannt. Als hätte ich mich erkannt. Für Sekunden schauten wir uns einfach nur in die Augen. "Also dann ..." sagte sie. Man sah ihr an dass sie es eigentlich eilig hatte. Und nach diesen zwei Worten wurden wir wieder zu Fremden, die sich zufällig über den Weg gelaufen waren. "Ja … tschüss!" sagte ich und jeder ging in seine Richtung. Plötzlich kam mir ein Gedanke. "He!" rief ich und rannte um die Ecke, in die Richtung, in die sie gegangen war. Aber sie war nicht da. Sie war weg.

Ich stand da. Mindestens 10 Minuten.

Und starrte ins nichts. Unfähig zu verstehen was geschehen war. Da hörte ich wie eine Tür geöffnet wurde und meine Lehrerin mit dem Trompetenlehrer redete. Der Bann löste sich. Ich rannte los. Und ich rannte so schnell ich konnte und fühlte wie sich mein Gehirn entspannte, wie ich wieder durchatmen konnte und sich die Gedanken ordneten. Schon nach kurzer Zeit brannte meine Lunge und mein Kopf war rot. Aber ich ignorierte es und hielt das Tempo bis ich zuhause war. Und da stand meine Mutter und sah mich an. "Hallo Elvira!" begrüßte sie mich. Aber ich war nicht wirklich da. Ich war mit meinem Gedanken bei mir, vor sechs Jahren. Stimmte das wirklich, was sich mir jetzt bot? Meine Gedanken kramten etwas von der untersten Schublade meines Gedächtnisses hervor. Eine Erinnerung, die vor sechs Jahren spielte und die nach vielen "das bildest du dir bloß ein" - Gerede in den Hintergrund getreten war. Und zwar, wie ein älteres Mädchen in mich hineinrannte, das genauso aussah wie ich.

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