Es ist stockfinster, bald Mitternacht. Seit Stunden ist Jorge Encarnação nun schon in einem Wald in Gießen unterwegs. Und noch immer ist ihm keine einzige Fledermaus ins Netz gegangen. Er ahnt: Vor vier Uhr nachts wird er hier mal wieder nicht fertig sein. "Fledermaus- Forschung bedeutet vor allem eines: Geduld haben", sagt er.
Am Nachmittag zuvor
Beim Wort "Professor" denkt man an einen älteren Herrn, blass, bebrillt, mit Laborkittel. Und dann biegt er um die Ecke: Professor Jorge Encarnação von der Universität Gießen, 39 Jahre alt, groß, in Cargo-Hose und Wanderschuhen. Rasch hievt er mehrere Leitern vom Dach seines Autos und stapft damit in den Wald. "Fledermaus- Forschung heißt auch sportlich sein", sagt er dabei.
Jorge Encarnação erforscht seit rund 20 Jahren Fledermäuse. 23 Arten leben allein in Deutschland. Viel weiß man nicht über die scheuen Säuger. Denn sie schlüpfen erst bei Dunkelheit aus ihren Verstecken. Jetzt, an diesem hellblauen Nachmittag, ist von ihnen also nichts zu sehen. Was sie tun? "Schlafen", sagt der Professor. Sein Zeigefinger deutet auf ein aprikosengroßes Loch in einem Buchenstamm, in 20 Meter Höhe. "Da müssen wir hin."
Er schlüpft in sein Klettergurtgeschirr, legt ein Sicherungsseil um den Stamm und steigt hinauf. Oben bei der Höhle angekommen, lauscht der Forscher. "Manchmal hört man ein sehr hohes Zirpen", raunt er. "Das ist das Rumgezicke der Weibchen. Die Tiere hängen dicht an dicht über Kopf, manchmal 120 Tiere in einer Traube. Bewegt sich eines, tritt es meist ein anderes. Dann gibt’s Geschrei."
Doch noch herrscht Totenstille in den Höhlen. Fledermäuse fallen tagsüber nämlich in eine Art Mini-Winterschlaf. "Torpor", nennt Encarnação diesen. Um Energie zu sparen, sinkt die Körpertemperatur extrem. Die Männchen kühlen bis auf 15 Grad Celsius herunter. Weil die Weibchen sich um ihren Nachwuchs kümmern, können sie nicht ganz so stark erstarren. Stattdessen wärmen sie sich gegenseitig in einer Gemeinschaftshöhle.
Auch das spart Energie. Seit Beginn seines Studiums schwärmt der Biologe für die Tiere: "Die bringen einen zum Staunen! Sie scheinen gar keine Angst zu haben, wenn man sie in die Hand nimmt." Encarnação macht eine Pause. "So unauffällig sie auch leben, so wichtig sind sie für den Wald. Wir bezeichnen einige von ihnen als Schlüsselarten. Fühlen sie sich wohl, heißt das: Auch anderen Arten wie Mäusen und Vögeln geht es gut im selben Lebensraum. Sie haben alles, was sie brauchen."
Jagd per Echo-Ortung
Während Encarnação erzählt, spannen seine Mitarbeiter Dutzende Fangnetze im Wald auf. Aber nicht irgendwo. "Wenn sich die Tiere abends zum Wasser aufmachen, wo sie Insekten jagen, nehmen sie meist den immergleichen Weg." An solchen "Fledermaus-Trampelpfaden" macht man leichte Beute.
Mitten im Wald, wo solche "Hauptstraßen" fehlen, ist es schwieriger. Das bekommen der Forscher und sein Team an diesem Abend wieder zu spüren. 21 Uhr, Dämmerung, die Netze sind noch leer. Vielleicht bleibt das auch die ganze Nacht so, warnt Encarnação. "Eigentlich können Fledermäuse die Netze auch im Dunkeln wahrnehmen", erklärt er.
Per Echo-Ortung entgeht ihnen nicht einmal ein 0,08 Millimeter dünner Draht. Die Echo-Ortung ist der "siebte Sinn" der Tiere: Sie stoßen dazu für menschliche Ohren unhörbar hohe Ultraschall- Laute aus und lauschen deren Echo. Wie schnell der Schall zurückprallt, verrät ihnen, wo ein Hindernis den Weg versperrt oder sich ein Insekt befindet. "Wir haben mit unseren Netzen nur eine Chance: wenn die Tiere unkonzentriert fliegen", meint Encarnação.
Lieblingsplatz der Fledermäuse: Spechthöhlen
Stunden vergehen. 22 Uhr, 23 Uhr, Mitternacht. Aber dann, endlich, zappeln die ersten Flieger im Netz. Encarnação zieht eine Wasserfledermaus heraus: Die Flügel eingeklappt, ähnelt das Bündel mit der spitzen, hellen Nase und den aufgerichteten Lauschern tatsächlich einer Maus. Vorsichtig faltet Encarnação einen der Flügel auseinander. Die Flughaut ist so dünn, dass das Licht seiner Taschenlampe hindurchschimmert. Ein Metallring mit Nummer verrät, dass das Tier bereits einmal gefangen wurde. Der Forscher notiert die Nummer, das Gewicht:acht Gramm; die Länge des Unterarms: vier Zentimeter.
Encarnação öffnet die Hand, einen Moment verweilt die Fledermaus im Lichtkegel seiner Stirnlampe, dann breitet sie die Flügel aus und wird von der Dunkelheit verschluckt. Allein 2000 Wasserfledermäuse haben Encarnação und seine Kollegen bereits gefangen, vermessen, beringt, beobachtet. Und langsam haben sie eine Ahnung, wo die Tiere am liebsten leben: in verlassenen Spechthöhlen.
Wie viel Nahrung die Tiere zum Leben brauchen: 3000 Zuckmücken pro Nacht. Für Fledermäuse sind also Tümpel und Flüsse wichtig, an denen die Mücken leben. Aber Encarnação forscht weiter. "Nur wenn wir genau wissen, was für einen Lebensraum die Tiere brauchen, können wir zukünftig dafür sorgen, dass solche Orte besser geschützt werden", erklärt er. Und dafür macht er gern die Nacht zum Tag.