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"Gehst du wohl weg da!", ruft die Biologin Encar Garcia und stupst das Fohlen energisch zurück. Das hatte seinen Kopf neugierig über das Gatter gereckt und begonnen, an einem etwa handballgroßen grauen Fellbündel im Strauch gegenüber zu knabbern.
Das Fellbündel rührt sich nicht. Vorsichtig nimmt Encar es auf die Hand und hebt es außer Beißweite des Fohlens. Ganz langsam streckt das zottelige Etwas einen Arm aus und greift mit drei beachtlichen Krallen nach einem Ast. Dann zieht es die Beine hinterher und bleibt kopfüber baumeln: Es ist ein Faultier - genauer gesagt, ein Dreifinger-Faultier.

Unterschlupf für Wildtiere
"Dieses Faultier macht seinem Namen wirklich alle Ehre", sagt Encar. "Anscheinend lässt es sich lieber anknabbern, als sich freiwillig zu bewegen!" Das Faultier ist noch ein Baby. Arbeiter hatten es beim Fällen eines Bambusstrauches gefunden. Da von der Mutter jede Spur fehlte, brachten sie das hilflose Tier zu Encar, die es nun mit der Flasche großzieht. Inzwischen hat sich in der Gegend herumgesprochen, dass die gelernte Biologin verletzte oder verwaiste Wildtiere bei sich aufnimmt.

Vor vier Jahren sind Encar und ihr Mann Sandro mitsamt ihren Pferden von Spanien nach Costa Rica gezogen. In einem Haus am Rande des Regenwaldes haben sie die Wildtier-Rettungsstation eröffnet. Seither haben sie alle Hände voll zu tun: Zwei Faultiere, drei Brüllaffenbabies und zwei halbstarke Margays - kleine Raubkatzen mit geflecktem Fell - befinden sich derzeit in ihrer Obhut. In großen Terrarien räkeln sich zudem rund dreißig Schlangen in unterschiedlichen Größen und Farben. Encar und Sandro züchten die Tiere, um sie später auszuwildern.
Keine Angst vor Schlangen!
Der Schutz von Schlangen ist dem Ehepaar ein großes Anliegen. "Viele Menschen hier haben große Angst vor Schlangen und machen regelrecht Jagd auf die Tiere", sagt Encar. So oft es geht, laden Encar und Sandro Schulklassen zu sich ein und zeigen den Kindern, wie man sich richtig verhält, wenn man einer Schlange begegnet. Was viele nicht wissen: Schlangen greifen Menschen nicht aus Boshaftigkeit an. Nur wenn sie sich bedroht fühlen und keine Möglichkeit zur Flucht sehen, schnappen sie zu.
Artenreichtum schützen
"Wir hoffen, dass wir die Kinder für Schlangen und andere Tiere begeistern können", sagt Encar. "Oft wissen sie gar nicht, welch einen Artenreichtum der Regenwald vor ihrer Haustür bereithält und wie wichtig es ist, ihn zu schützen." Kinder für die beiden herumtollenden Raubkatzen im Miniaturformat zu begeistern, dürfte nicht weiter schwer fallen. Die Margays sehen niedlicher aus, als jedes Kuscheltier. Doch auch wenn sie nicht viel größer werden als eine stattliche Hauskatze - Haustiere sind es nicht!

Zwischenstopp im Tierheim

"Leider werden Margay-Babies oft gefangen, weil Leute sie als Haustiere halten wollen", sagt Encar. "Die meisten wissen nicht, wie man sie füttert und pflegt, und die Raubkatzen werden krank oder sterben sogar." Ähnlich erging es den beiden Brüdern, die nun auf der Wiese herumtollen. Es brauchte mehrere Anläufe, bis Encar ihre früheren Halter davon überzeugen konnte, sie in ihre Obhut zu geben. "Zum Glück willigten sie am Ende doch ein. Als die beiden Margays hier ankamen, waren sie sehr abgemagert", erzählt Encar. "Mittlerweile sind es aber zwei quietschfidele Racker".
Noch werden die jungen Raubkatzen von Encar mit der Flasche gefüttert. Bald schon müssen sie lernen, selbst für ihr Futter zu sorgen. Nach und nach bringt Encar ihnen alles bei, was man zum Überleben in der Wildnis wissen muss. Denn Dauergäste sind bei der Biologin nicht erwünscht: "Wildtiere sind keine Haustiere. Sobald sie groß genug sind und gelernt haben, für sich selbst zu sorgen, entlassen wir alle Tiere in die Freiheit. Wir bringen sie in ein nahe gelegenes Schutzgebiet und wildern sie dort aus".
Trainieren für die Freiheit

Bei manchen Tieren ist das leicht. Schlangen oder auch Faultiere gewöhnen sich gar nicht erst an die Obhut der Menschen. Wenn sie alt genug sind, finden sie sich von allein in der Wildnis zurecht. Andere brauchen ein regelrechtes Training, bevor sie in die Freiheit entlassen werden können. Brüllaffen etwa ist das Klettern keinesfalls angeboren. Encar ruft ihre drei Affenbabys jeden Tag zum Klettertraining. "Anfangs locke ich sie mit Leckerbissen auf den Baum", erzählt sie. "Nach und nach trauen sie sich dann immer höher und höher".
Erst wenn Encar sicher ist, dass die Tiere alles können, was sie zum Überleben brauchen, bringt sie sie in das Schutzgebiet. Die Trennung von ihren Schützlingen fällt ihr jedes Mal schwer. Meist ist es ein Abschied für immer. Doch ab und zu entdeckt Encar bei einer Wanderung durch den Regenwald ein bekanntes Gesicht: "Einmal habe ich ein Brüllaffenweibchen wiedergesehen, das ich mit der Flasche großgezogen habe", erzählt sie. "Sie hatte ein Junges dabei. Das war ein tolles Gefühl!".