
Chan Thy und Thán sind elf und neun Jahre alt. Jeden Tag wechseln sie sich beim Rudern ihres kleinen Bootes ab. Heute ist Chan Thy mit Rudern an der Reihe. Geschickt steuert sie das kleine Holzboot durch die engen Wasserwege. Obwohl es erst sechs Uhr morgens ist, herrscht auf dem See geschäftiges Treiben. Marktfrauen mit spitzen Strohhüten rudern von Haus zu Haus und bieten Kaffee, Gemüse, Töpfe, Kleidung, Blumen und sogar Eis an. Kinder springen kopfüber ins Wasser und Fischer kehren mit Netzen voll glitzernder Fische von ihrem nächtlichen Fang ins Dorf zurück.
Thán schöpft mit einer Plastikschaufel Wasser aus dem Boot. Es ist schon alt und die Holzplanken sind nicht mehr ganz dicht. Trotzdem sind Chan Thy und Thán stolz auf ihr Boot, und sie sind froh, dass sie es haben. Denn ohne Boot sitzt man im Fischerdorf Kompong Luong zuhause fest. Chan Thy biegt um eine Ecke und da ist auch schon die Schule: Zwei große Holzhäuser, die nebeneinander auf Flößen auf dem Wasser dümpeln. Vom Schaukeln einmal abgesehen, ist es eine Schule wie jede andere. Thán verschwindet im linken Haus für die jüngeren Kinder, Chan Thy nimmt im rechten auf ihrer Schulbank Platz. Der Tag fängt gut an, mit ihrem Lieblingsfach: Khmer.
Für Chan Thy ist die Landessprache Khmer eine Fremdsprache, denn zuhause wird Vietnamesisch gesprochen. Wie die meisten der rund 1.600 Familien im schwimmenden Dorf stammt Chan Thys Familie aus Vietnam. Viele Vietnamesen sind als Flüchtlinge nach Kambodscha gekommen und leben schon seit Generationen auf dem Tonle Sap. Ohne Geld und Aufenthaltserlaubnis sind sie an Land nicht willkommen. Einige Menschen in Kompong Luong haben nie festen Boden unter den Füßen. Sie verbringen ihr ganzes Leben auf dem Wasser, schaukelnd im Takt der Wellen.

Alle leben vom Fisch
Nach der Schule beeilen sich Chan Thy und Thán nach Hause zu kommen. Ihr Onkel hat eine ganze Bootsladung voll Fisch vorbeigebracht. Jetzt müssen alle helfen, die Fische zu putzen und zu schuppen. Mit einer Drahtbürste schrubbt Chan Thy immer wieder über den glitschigen Körper, bis sie alle Schuppen entfernt hat. Fast alle Familien auf dem Tonle Sap leben vom Fischfang, auch wenn nicht alle selber Fischen gehen. Chan Thys Großmutter etwa kauft die Fische von Chan Thys Onkel, pökelt sie mit Salz, um sie haltbar zu machen. Danach verkauft sie die Fische nach Phnom Penh, die Hauptstadt von Kambodscha und sogar nach Vietnam.

Die Fischabfälle landen im Wasser. Genau wie der restliche Müll. Eine Müllabfuhr gibt es nicht auf dem Tonle Sap. Das ist ein Problem, denn das gleiche Wasser nehmen die Menschen zum Waschen, Zähneputzen und sogar zum Trinken. Die Kirche, die es im schwimmenden Dorf gibt, hat eine Filteranlage angeschafft, die aus dem schmutzigen Wasser wieder sauberes macht. Doch selbst die wenigen Cent, die das saubere Trinkwasser kostet, wollen oder können die meisten Bewohner wie Thán und Chan Thys Familie nicht bezahlen. Ihre Großmutter schöpft das Wasser zum Trinken und Kochen lieber direkt aus dem See.
Bei ihr wohnen Chan Thy und Thán, seit ihr Vater vor ein paar Jahren gestorben ist. Zu dritt schlafen sie in einem kleinen, luftigen Häuschen aus Holz und Stroh. Wirklich stehen kann man nur, wenn man genau in der Mitte unter dem Spitzdach steht. Meist rutschen alle auf den Knien über den Boden. Platz ist Mangelware und jeder Winkel im Haus wird genutzt. Töpfe und Pfannen hängen an Nägeln an den Wänden und unter der Decke. Der Kleiderschrank ist in einer Nische gleich neben der Kochstelle nur mit einem Tuch abgetrennt. Betten gibt es nicht, geschlafen wird auf Bastmatten auf dem Boden.
Geschafft! Alle Fische sind geschuppt und Chan Thy wäscht sich die Fischschuppen von den Füßen. Etwas mehr als eine Stunde hat sie nun Zeit, um etwas zu essen und vielleicht ein paar Zeichentrickfilme im Fernsehen anzuschauen. Der Strom dafür kommt aus einer Autobatterie. Danach hat sie Nachmittagsunterricht in einer Privatschule. Zehn Cent zahlt die Großmutter für den Extraunterricht. Chan Thy lernt fleißig, denn sie träumt davon, eines Tages an Land leben zu können und in einem Krankenhaus zu arbeiten. Obwohl es auf dem Tonle Sap fröhlich zugeht und es Spaß macht, im Wasser zu toben oder mit den Booten durch die Kanäle zu schippern, wünscht sich Chan Thy eines sehr: die Tür aufzumachen und einfach loszurennen.

Weitere Informationen
Wenn ihr mehr wissen wollt über Kambodscha und darüber, wie Kinder dort leben, schaut doch mal bei den Sternsingern www.sternsinger.de vorbei. Der "Sternsinger" ist das Magazin des Kindermissionswerks. Hier ist der Artikel über Chan Thy und Thán zuerst erschienen.