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Abdul aus Sierra Leone
Abduls Zuhause liegt mitten zwischen einer Holzfabrik, einem Autofriedhof und einem Tierheim. Auf einen Wecker kann der 19-Jährige daher gut verzichten: Jeden Morgen, pünktlich um fünf Ùhr, reisst ihn eine Kreissäge unsaft aus dem Schlaf. Der Lärm der Holzfabrik weckt auch die Hunde. Mit lautem Gebell stimmen sie in das Getöse ein. In diesen Momenten möchte der junge Afrikaner am liebsten seine Sachen packen und abhauen. Raus aus dieser Holzbaracke, die mitten im Industriegebiet liegt. Raus aus dieser Kleinstadt, in der sich die Leute nach ihm umschauen, weil seine Hautfarbe anders ist. Raus aus dem Flüchtlingslager Schongau.
Flucht aus Sierra Leone
Doch wohin sollte Abdul dann gehen? Zurück in sein Heimatland Sierra Leone? Von dort war Abdul doch geflohen, damals vor drei Jahren. 5000 Kilometer war der 16-Jährige gereist, ganz alleine, bis er endlich die bayerische Hauptstadt München erreicht hatte. Hier wollte er um Asyl bitten, sein neues Leben in Deutschland beginnen.
Asyl. Alle Hoffnungen von Abdul ruhen auf diesem einen Wort. Und tatsächlich scheint es zunächst Wunder zu bewirken: Abdul wird eine Unterkunft in München zugeteilt, er bekommt genug zu essen und zu trinken. Am wichtigsten aber: Abdul darf auf eine zweisprachige Schule gehen. Er, der kein einziges Wort Deutsch spricht, dafür aber fließend Englisch. Der junge Afrikaner paukt Tag und Nacht, lernt seine ersten Brocken Deutsch. Als Kind hatte ihn ein Mediziner von einer schlimmen Krankheit geheilt. Jetzt möchte er selbst Arzt werden.
Doch schon nach zwei Wochen muss Abdul seine liebgewonnene Schule wieder verlassen. Die Ausländerbehörde verlegt ihn in ein Asylbewerberheim nach Schongau, 90 Kilometer von der bayerischen Hauptstadt entfernt.
Asyl
Das Wort Asyl stammt aus dem Griechischen und bedeutet "sichere Zuflucht". In Deutschland können Menschen Asyl beantragen, wenn sie in ihrem Heimatland wegen ihrer politischen Meinung oder ihres Glaubens verfolgt werden oder ihr Leben in Gefahr ist. 27.649 Menschen haben das 2009 getan. Zwei Jahre müssen die Bewerber durchschnittlich auf eine Entscheidung warten. Die Chancen zu bleiben stehen 40:60.
Das Flüchtlingslager Schongau versetzt Abduls Glaube an Deutschland einen ersten Dämpfer: Die beiden Holzbaracken befinden sich in einem traurigen Zustand: Es ist schmutzig, von den Wänden blättert die Farbe, es zieht. Viel schlimmer aber: In seiner neuen Schule gibt es weder englischsprachigen Unterricht noch passende Deutschkurse. Auf eigene Faust reist der 16-Jährige deshalb nach München zurück - und bittet um einen Platz in seiner alten Klasse. Seine alte Lehrerin sagt zu, Abdul ist überglücklich – bis er auf dem Ausländeramt von einer seltsamen Vorschrift namens "Residenzpflicht" erfährt.
Was Abdul nicht wusste: Seitdem er in Deutschland lebt, trägt er eine unsichtbare Leine mit sich herum, fast so wie seine lauten Nachbarn aus dem Tierheim. Wo der Zuständigkeitsbereich seiner Ausländerbehörde endet, endet auch diese Leine. Für den Rest Deutschlands gilt: Betreten verboten! Wird Abdul außerhalb seines Bereichs erwischt, kann er ins Gefängnis kommen oder sogar aus dem Land geworfen werden.
So schrumpft Abduls Deutschland auf die Grenzen des Landkreises Weilheim-Schongau zusammen. Das Schlimmste: München gehört nicht mehr zu dieser Welt. Und die Behörden bleiben hart: Abdul darf nicht an seine alte Schule zurück – zumindest vorerst.
Residenzpflicht
Der Begriff "Residenzpflicht" meint, dass sich Asylbewerber nur in einem kleinen Teil Deutschlands aufhalten dürfen. Meistens ist das der Landkreis oder die kreisfreie Stadt, in der sich ihr Flüchtlingslager befindet.
Wer diesen Bereich verlassen will, muss einen besonderen Reiseantrag stellen. Die Ausländerbehörde entscheidet über den Antrag, automatisch zustimmen muss sie nicht. Wer gegen die Residenzpflicht verstößt, wird bestraft: Wie schwer die Strafe wiegt, hängt vom Ermessen des Richters und von der Anzahl der Verstöße ab. Von einer schlichten Verwarnung über eine Geldstrafe bis hin zu Gefängnis oder Abschiebung ist alles möglich.
4000 Kilometer Busfahrt
Obwohl auch Marek von der Residenzpflicht betroffen ist, hatte er mehr Glück als Abdul. Der 19-jährige Junge stammt aus Tschetschenien im Südosten Russlands. Zweimal haben die Tschetschenen bereits versucht, einen eigenen Staat zu gründen – beide Male vergeblich. Seitdem herrschen Angst und Gewalt auf den Straßen. Als die Lage 2006 zu gefährlich wird, ringen sich Mareks Eltern zu einer schweren Entscheidung durch: Um ihren Sohn zu schützen, schicken sie ihn fort. Nach 4000 Kilometern Busfahrt überquert der 15-Jährige im Dezember die deutsche Grenze und erreicht schließlich Belzig, eine Kleinstadt in Brandenburg.
"Ich hatte mir alles ganz anders vorgestellt", erinnert sich Marek, der eigentlich anders heißt, heute. "Ich dachte, ich bekomm' gleich meinen Pass, und alles, was man sich wünschen kann. Ein Kumpel aus Tschetschenien hatte mir Märchen erzählt: dass in Deutschland die Computer und Handys einfach so auf der Straße liegen..."
Marek findet kein einziges Handy auf der Straße. Aber der Aufenthalt in einem Asylbewerberheim bleibt ihm erspart. Denn im Gegensatz zu Bayern gibt es in Brandenburg einen besonderen Ort für jugendliche Flüchtlinge: Das ALREJU-Haus in Fürstenwalde. Alle Asylbewerber, die in Brandenburg aufgegriffen werden und noch nicht 16 sind, kommen hier unter. Die Jugendlichen erhalten einen Crash-Kurs in Deutsch und werden – wenn nötig – von Psychologen betreut. Im Moment leben 53 Mädchen und Jungen aus zwölf unterschiedlichen Nationen im ALREJU-Haus - viele von ihnen in bunt zusammengewürfelten Wohngruppen.
Kochen gegen Heimweh
Ein Dreivierteljahr brauchen die meisten, um sich einzugewöhnen "Schließlich mussten unsere Bewohner alles zurücklassen", erklärt Heimleiterin Mathilde Killisch, "Ihre Familien, ihre Freunde, ihre ganze Kultur" Damit die Jugendlichen nicht vollends den Kontakt zur alten Heimat verlieren, wird gekocht, was schon zu Hause auf den Tisch kam.
Marek findet sich recht schnell in Fürstenwalde zurecht: Als Neuankömmling erhält er eine medizinische Untersuchung, neue Kleidung, Schulsachen - und den ersten Deutschunterricht. Auch den manchmal aufreibenden Kampf mit der Ausländerbehörde nehmen ihm die Betreuer ab.
Hausarrest am Wochenende
Während Marek lernt, Dativ und Akkusativ zu unterscheiden, plätschert Abduls Leben in Schongau so dahin. Das Lager verlässt er nur noch selten – wohin sollte er auch gehen? Vom Staat erhält er 40,90 Euro monatlich, Essenspakete werden direkt zum Flüchtlingsheim geliefert. Manchmal spielt er Fußball. Arbeiten und sich etwas Geld dazuverdienen darf Abdul nicht: "Es fühlt sich an, als würde man ein Schaf zum Wasser führen, aber es dürfte nicht trinken", beschreibt er seine Gefühle heute. Nur durch Zufall erfährt Abduls, dass er eine Ausnahmegenehmigung von seiner Residenzpflicht beantragen kann. Der Papierkrieg mit der Ausländerbehörde dauert mehrere Monate, dann endlich lenken die Behörden ein. Für den Schulunterricht darf sich Abdul jetzt ausnahmsweise in München aufhalten - aber nur montags bis freitags. An den Wochenenden muss er notgedrungen nach Schongau zurück.
Riskante Zugfahrt
Doch Abduls Taschengeld reicht nicht aus, um die wöchentlichen Zugfahrten zu bezahlen. Daher steht er häufig schon Sonntagsabends am Schongauer Bahnhof – und bettelt um eine Mitfahrgelegenheit auf einem günstigen Gruppenticket. Eine Weile geht das gut, dann gerät Abdul in eine Polizeikontrolle. Die Münchner Bahnhofsuhr zeigt sieben Uhr abends, bis zum Montag fehlen nur wenige Stunden. Doch die Polizisten bleiben hart: Sie nehmen den Jungen mit und benachrichtigen die Ausländerbehörde. Die Nacht über muss Abdul auf der Polizeiwache verbringen.
Marek kennt dieses Gefühl: Auch wenn Fürstenwalde längst zu seiner neuer Heimat geworden ist, plagt ihn die Residenzpflicht genauso wie Abdul. Möchte er einen Freund besuchen, der etwas weiter weg wohnt, muss der ihm zuerst eine offizielle Einladung schreiben. Dazu benötigt Marek noch die Unterschrift seines gesetzlichen Vormunds.
Vormund
Bevor ihr 18 werdet, treffen eure Eltern alle wichtigen Entscheidungen für euch. Manchmal allerdings können oder wollen sich Eltern nicht mehr um ihre eigenen Kinder kümmern. Dann springt ein Vormund als Eltern-Ersatz ein. Nicht nur einzelne Personen können Vormund werden, sondern auch ein Verein oder eine staatliche Behörde wie das Jugendamt.
Erst jetzt kann Marek die Papiere zur Ausländerbehörde schicken, die manchmal ja sagt, manchmal Nein. Aber manchmal fährt er auch ohne Erlaubnis los – und hofft darauf, einfach nicht erwischt zu werden. Häufig klappt das, aber nicht immer: Einmal, in Hamburg, fragt ihn ein Polizist nach seinen Papieren. Der Junge muss passen - und landet auf dem Polizeirevier. Doch Marek kommt mit einem blauen Auge davon: Die Betreuer aus Fürstenwalde setzen sich für ihren Schützling ein: Er muss keine Strafe zahlen und darf zurück ins ALREJU-Haus.
Mit viel Überzeugungskraft schafft es auch Abdul, seine Misere mit dem Ticket zu erklären. Schließlich lässt sich die Sachbearbeiterin von der Ausländerbehörde überreden. Mit einem Filzstift streicht sie das Wort "Montag" in seinen Papieren durch und schreibt "Sonntag" darüber. Abdul wundert sich, dass es so einfach geht. Jetzt hat er einen weiteren Tag dazu gewonnen. Aber wehe, er wird an einem Samstag erwischt...
(Noch kein) Happy End
Im Dezember 2010 haben die Innenminister der deutschen Bundesländer über die Residenzpflicht beraten – und sich gegen ihre Abschaffung entschieden. In einigen Bundesländern wurde die Regelung aber mittlerweile gelockert, so auch in Berlin und Brandenburg.
Seit Ende Juli 2010 können Flüchtlinge wie Marek dort einen "Dauerurlaubsschein" beantragen. Damit können sie sich zumindest in Berlin und Brandenburg frei bewegen. Nach sechs Monaten wird die Erlaubnis neu geprüft. Für eine Reise nach Hamburg braucht Marek noch immer eine besondere Genehmigung.
Abdul hat mittlerweile Asyl erhalten und kann jetzt fest in München wohnen. Nach dem Abschluss seines Deutschkurses möchte er eine Ausbildung anfangen.