"Andras! Warte!"
Er drehte sich um, gerade noch rechtzeitig, um den dunkelhaarigen Jungen aufzufangen, der ihm nachgestürmt war.
"Nicht so hastig!", lachte er und stellte ihn wieder auf die Füße. "Willst du mitkommen?", fragte er dann, was mit heftigem Kopfnicken bestätigt wurde.
"Dann musst du aber auch etwas tragen."
"Mach ich!", rief der Kleine strahlend.
Eine Weile stapften sie schweigend nebeneinander durch den Schnee.
"Andras?", fragte der Junge schließlich.
"Was denn, Coray?"
"Sind alle Jungen so wie ich?"
Er sah auf den Kleinen herunter. Dann strich er sanft über die schwarzen Flügel, die aus der Jacke des Jungen herausragten.
"Nein.", meinte er lächelnd. "Du bist einzigartig."
"Ich will aber nicht anders sein!", murrte Coray leise und schob die Unterlippe vor. "Wenn mich schon die Mädchen zu Hause auslachen."
"Hm …" Andras hob ihn auf seine Schultern. "Soll ich dir eine Geschichte erzählen?", fragte er. "Ja.", sagte der Junge leise.
"Weißt du, vor einigen Jahren gab es eine Frau und einen Mann, die lebten im Wald, wo kein Mensch vorbeikam.", begann er.
"Warum lebten sie da?"
"Sie waren aus ihrer Heimat geflohen, da sie dort nicht zusammen sein durften."
"Warum nicht?"
"Der Mann war ein Prinz und die Frau war eine Magd, deshalb."
"Aha."
"Sie lebten also im Wald. Es ging ihnen gut, denn sie hatten ein eigenes Haus gebaut. Auch wenn es im Winter sehr kalt war, waren sie glücklich.
Eines Tages gebar die Frau ein Kind. Darüber freuten sich beide sehr, doch bald darauf starb das Kind.
Die beiden trauerten lange, auch wenn die beiden später geborenen Töchter sie etwas trösteten.
Ihre erste Tochter hatten sie zwischen den Wurzeln einer großen Eiche begraben.
Einmal wollte der Mann das Grab besuchen.
Als er an der Eiche ankam, bemerkte er einen Säugling, der schlafend zwischen den Wurzeln des Baumes im Schnee lag.
Erschrocken eilte er näher. Als er sich neben den Jungen kniete, fielen ihm die Flügel auf, die dem Kind aus dem Rücken sprossen.
Er hob das Kind hoch und nahm es mit nach Hause.
Nach einer Woche war noch immer niemand gekommen, dem das Kind gehörte, darum beschlossen die beiden, das Kind als ihr Eigenes aufzunehmen. Sie wussten, dass der Junge etwas ganz Besonderes war."
"War ich das?", fragte Coray, der bis jetzt geschwiegen hatte.
Andras nickte. "Wir haben dich Coray genannt.", fuhr er fort. "Denn das bedeutet 'Rabe'. Als du vier Jahre alt warst, bist du das erste Mal geflogen. Nur wenig über dem Boden und nicht weit, aber damit hast du uns alle erschreckt.
Deine Schwestern beneiden dich eigentlich um die Flügel, die du so gerne los wärest und das verstecken sie hinter ihrem Lachen."
"Ich will aber keine Flügel haben!", rief der Junge störrisch.
Andras griff nach oben und hob ihn von seinen Schultern. "Aber wir alle mögen dich genauso, wie du bist.", meinte er lächelnd. "Und sicher gibt es Kinder mit Flügeln, die das für völlig normal halten."
Trotzig erwiderte Coray seinen Blick. "Aber…", setzte er an.
Doch Andras unterbrach ihn und blieb vor einer kleinen Hütte stehen.
Gebückt trat er durch die geöffnete Tür
Er reichte Coray einige Stücke Holz. "Nun musst du auch etwas tragen."
Eifrig griff Coray zu. Schon hatte er vergessen, dass er eben noch wütend gewesen war. Lächelnd lud Andras Holz in seine Kiepe, bevor er den Korb auf seinen Rücken hob. Dann machten sie sich auf den Rückweg.
Besorgt blickte sie aus dem Fenster. "Eigentlich müssten die beiden längst zurück sein.", überlegte sie und wandte sich ab, um das Feuer mit dem wenigen Holz, das noch da war, anzuheizen.
"Sie kommen!", rief Zina begeistert und deutete zwischen die Bäume, während Narya aufgeregt zur Tür lief.
"Immer mit der Ruhe.", hielt sie ihre beiden Töchter zurück, bevor die aus dem Haus stürmen konnten.
Gerade, als sie aus der Tür trat, kam Andras zwischen den Bäumen hervor. In den Armen trug er ein kleines Bündel, aus dem zwei schwarze Flügel ragten.
Coray erwachte nicht einmal, als sie Andras umarmte. "Schön, dass ihr wieder daheim seid."