Ihre Haut leuchtet hell im Mondlicht, geheimnisvolle Schatten auf weiß. Die zarten Füße suchen ihren Weg über Steine und Wurzeln, durch Gras und Laub. Knackende Zweige, rauschende Blätter und die einsame Stimme eines Nachtvogels in der Luft. Ihr goldenes Haar verfängt sich in tief hängenden Ästen, die schönen Locken sind zerzaust.
Das weiße Nachthemd, fast so zart und rein wie ihre Haut, ist zerrissen von ihrer einsamen Wanderung durch die Nacht. Ihr ganzer Körper ist zerkratzt und zerschunden. Sie merkt es nicht. Genauso wenig wie sie die Kälte spürt. Sie läuft immer weiter, gebannt von einer dunklen, unbekannten Macht. Hat sie aus ihrem warmen, sicheren Bett gelockt. Mitten in der Nacht, einer Vollmondsnacht. Geheimnisvoll und bitterkalt.
Es ist Dezember. Ihr Vater hat ihr für den Winter einen weichen Pelz geschenkt. Doch sie trägt ihn nicht, nicht heute Nacht und auch sonst nicht. Er ist ihr egal, alles ist egal. Sie will nur weiter, immer weiter. Bald. Gleich. Dann ist sie da. In ihr eine Sehnsucht, unerklärlich, unerbitterlich.
Vor ihr liegt eine Lichtung. Sommerlich glitzert sie im kalten Mondlicht, doch die Schneedecke um die kreisrunde Wiese ist unberührt und rein. Jungfräulich. Wie sie.
Das Ziehen in ihrem Inneren wird stärker. Die blauen Augen scheinen riesig und erwartungsvoll in dem zarten Gesicht. Ehrfürchtig geht sie nun langsam die letzten Schritte bis zur Lichtung.
Wie ein Magnet zieht die Mitte sie an. Ihre Sehnsucht steigert sich ins Unermessliche. Sie verspürt zugleich Glück und Trauer, Freiheit und Zwang, sogar Mut und Angst. Sie will sich im Glückstaumel drehen und ihr Spitzennachthemd im Wind flattern sehn, sie will von ihrer Trauer eingehüllt zu Boden sinken.
Bemerkt nicht, dass sie nicht allein ist. Augen. Überall. Gewisper. Gesang. Etwas liegt in der Luft. Doch sie ist zu sehr beschäftigt ... mit sich selbst. Ist in die Falle getappt. Angezogen von ihrer dunklen Macht. Unbemerkt.
Und jetzt kommen sie. Die Schöpfer der Nacht. Keine Möglichkeit zur Flucht, ganz ihnen ausgeliefert, den Feenwesen. Sie haben so lange ihre Lockrufe ausgesandt. Versteckt im Säuseln des Windes, im Rauschen der Blätter, im Seufzen des Waldes.
Sie haben gewartet. So lange. Auf das schöne Mädchen. Jetzt ist es da. Endlich.
Leise gleiten sie aus den Schatten hervor. Fast lautlos. Mit tödlicher Zielstrebigkeit schweben die überwältigend schönen Feenwesen auf die kauernde Gestallt zu.
Sie kämpft mit sich. Immer noch. Bemerkt nichts. Außer der Kälte. Sie legt sich über ihr Herz, betäubt alles und lähmt ihre Gedanken.
Der Mondschein lässt nicht nur ihre weiße Haut erstrahlen, auch die bläuliche der Verführer leucht geheimnisvoll.
Sie kommen immer näher. So langsam. So vorsichtig. Und doch unaufhaltsam. Ihre Schönheit blendet jedes Menschenwesen. Außer das Mädchen. Es sieht. Erkennt. Versteht. Endlich, und doch zu spät.
Sanfte Hände lullen es ein. Süßer Duft steigt ihm in die Nase. Wind und Wetter, Wald und Flur. Erblühende Rosen und das weite Meer.
Sanfte Stimmen, leiser Singsang dringen an ihr Ohr. Sie weiß nicht, was mit ihr passiert.
All die Schönheit verschleiert ihre Sicht.
Metall glänzt in der Nacht.
"Du willst doch bei uns bleiben? Eins neues Leben mit uns?"
Sie nickt wie ins Trance. Wer kann schon diesen verführerischen Stimmen wieder stehen?
Sie sieht eine blanke Klinge im Mondlicht glitzern. Spürt keinen Schmerz. Spürt nichts.
Sieht nur rot auf weiß, ein Strudel aus Farben, der in Dunkelheit endet, zieht sie hinein.
Noch einmal ist sie auf der Lichtung. Sie sind fort. Rufen ihre Seele in eine andere Welt.
Doch der Körper hält sie fest.
Das Rufen wird schwächer. Sie spürt Schmerz. Ganz plötzlich.
Ihr Schöner Mund verzieht sich. Bringt Leben in ihr erstarrtes Gesicht. Kälte in ihr.
So köstliche Kälte, verdrängt Trauer und Schmerz.
Sie lässt los. Lässt sich treiben. Folgt den Stimmen.
Und ward nimmer mehr gesehen.