Die Hufe des Hirsches trommelten über den gefrorenen Boden.
Tiza klammerte die Arme und Beine fest an den schlanken Körper.
Als sie das offene Feld verließen und endlich den Wald erreichten, presste sie ihren Kopf an den warmen weißen Hals, doch die herunterhängenden Zweige peitschten ihr ins Gesicht und hinterließen blutige Schrammen.
Sie wagte es nicht, sich umzuschauen, trotzdem wusste sie, dass ihre Verfolger zurückgefallen waren.
Der Hirsch preschte, ohne Rücksicht auf die kleine Last auf seinem Rücken, durch das dichte Gestrüpp. Die schlangenhaften Bewegungen, die er machte, um den dicht stehenden Bäumen auszuweichen, hätten Tiza fast herunter geschleudert. Es fühlte sich an, als ritte sie auf einer geschwungenen Peitschenschnur. Schnee rieselte von den Bäumen herunter und die eiskalte Winterluft schmerzte wie Nadelstiche auf ihrer Haut. Der scharfe Wind trieb Tiza Tränen in die Augen, doch sie hatte keine Hand frei, um sie wegzuwischen. Das monotone Geklapper der Hufe klang dumpf auf dem schneebedeckten Waldboden und Tiza spürte die Müdigkeit, die den ganzen Tag in ihr geruht hatte und sie nun überfiel.
Auf einmal blieb der Hirsch ruckartig stehen.
Tiza, die nur kurz den Kopf gehoben hatte, wurde hart an seinen Nacken geschleudert. Sie rieb sich den schmerzenden Hals.
Der Hirsch stand stocksteif und sog schnaubend die Luft ein. Sein Kopf zitterte leicht und er drehte die grauen Ohren nervös hin und her. Die ganze Umgebung schien unter seiner Anspannung zu zittern.
Dann, jäh, und ohne eine einzige Vorwarnung, spannte der Hirsch seine Muskeln an und setzte mit einem gewaltigen Sprung nach links. Irgendetwas jagte ihm schreckliche Angst ein und er wollte so schnell wie möglich davor flüchten.
Tiza bemühte sich vergeblich das fliehende Tier wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie versuchte ihn mit ihren Schenkeln zurückzutreiben, doch er stürmte blind vor Furcht einfach mit ihr davon.
Tiza schrie entsetzt auf, als eine dunkle Gestalt urplötzlich neben ihr auftauchte.
Das Pferd des Mondreiters rollte wild mit seinen roten Augen und bleckte die großen gelben Zähne.
Die Gestalt auf seinem Rücken hatte ihr Gesicht vermummt, doch ihre Silhouette zeichnete sich scharf im Mondlicht ab und trieb Tiza einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sie hatte keine Zeit für weitere Gedanken, der Hirsch galoppierte noch schneller und sie musste alles daran setzen, oben zu bleiben.
Der Mondreiter hatte schnell aufgeholt und Kopf an Kopf jagten die beiden nun durch den Wald.
Später konnte sich Tiza nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. Nur noch daran, dass der Mondreitersich die Zähne des Pferdes plötzlich in die Flanke des Hirsches gruben. Als er sich aufbäumte wurde sie von seinem Rücken geschleudert.
Der Schnee konnte ihren Aufprall kaum dämpfen, sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Blut. Als sie sich mühsam aufrichtete, sah sie gerade noch, wie Reiter und Hirsch von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann sank sie zurück und verlor ihr Bewusstsein.
Die runde Mauer der Zelle war so blank, dass man sich darin spiegeln konnte.
Tiza wickelte sich fester in den Mantel und starrte auf ihr eigenes Spiegelbild.
Warum war sie nicht sofort in irgendein rettendes Versteck gekrochen, nachdem sie auf dem Boden gelandet war?
Warum hatten die restlichen Mondreiter sie erkannt und waren nicht an ihr vorbeigaloppiert? Jeder Knochen in ihr schmerzte und sie wollte einfach nur weg.
Weit weg.
Wie lange würde es dauern, bis sie verhungert war?
Oder würde sie zuerst verdursten?
Auf den Hirschen konnte sie sich nicht verlassen, er würde ihr nicht helfen!
Er konnte vielleicht fühlen, doch sie war ihm egal.
Sie hatte ja nur den Auftrag ihn dort hinbringen, alles andere zählte nicht. Vielleicht würde er es alleine schaffen ...
Und plötzlich stand er da.
Mitten in der Wand.
Mittendrin.
Der Schweiß lief in Strömen über sein Fell,
seine Beine waren blutverkrustet.
Doch er war gekommen, um sie abzuholen.
Der silberne Hirsch war zurück.