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Bitte die Kinnlade schließen, den Verstand einschalten und gut festhalten. "Booster Status OK". Der überdimensionale Fahrstuhl fängt an zu vibrieren, rattert stärker und dann knallt es: Ich schwebe im Weltall. Dramatisch laute Hintergrundmusik untermalt den Flug. An den Ausgucklöchern, den Monitoren, ziehen Sterne und Planeten vorbei. Die geschichtlichen Meilensteine der Menschheit prasseln in Form einer männlichen Stimme auf mich ein und ehe ich mich versehe, habe ich das Ziel erreicht: Finsternis. Was ist passiert? Stromausfall?
Wo alles begann
Nein, die Zeitmaschine hat mich an den Anbeginn der Welt katapultiert. Eine tiefe Männerstimme raunt: "Wir sind dort angelangt, wo Raum noch kein Raum und Zeit noch keine Zeit war". In dieser dunklen Leere leuchtet nur ein winziger weißer Punkt auf den schwarzen Monitoren - ein Staubkörnchen, der Ursprung von allem, was sein wird, vor 13,5 Milliarden von Jahren. Einsam und leise schwebt es vor sich hin, als warte es auf den Urknall. Ich stelle mir Gedanken versunken vor, wie daraus die Welt entstanden sein könnte. Doch dann reißt mich das Wackeln der Zeitmaschine wieder aus meinen Phantasien. Innerhalb von 30 Sekunden schickt sie mich unter Getöse und Geratter wieder ins Hier und Jetzt zurück: in die Exkursion "Kosmos", im Universum Science Center Bremen.
In der Expedition "Mensch" durch den Geburtskanal rutschen
Gut durchgeschüttelt und mit Druck auf den Ohren klopfe ich den Sternenstaub von meinen Kleidern und begebe mich weiter auf Entdeckungstour. Zu ergründen gibt es drei Ausstellungsschwerpunkte: den Mensch, die Erde und den Kosmos. Eine komplette Runde durch alle drei Gebiete dauert etwa vier Stunden. Man muss sich eben Zeit nehmen, wenn man wirklich etwas sehen will. Denn die insgesamt 250 Ausstellungsstücke im Science Center sind nicht nur zum Angucken und Bestaunen gedacht. Bei den meisten Experimentierstationen geht es darum, alles selbst auszuprobieren.
Und das sieht dann zum Beispiel so aus: Die begehbare Gebärmutter in der Wissenschaftslandschaft "Mensch" will den Besucher in die Zeit vor seiner Zeugung zurück versetzten. Er soll sich vorstellen, wie sich ein ungeborenes Kind im Bauch seiner Mutter fühlt. Um das weibliche Hohlorgan möglichst wahrheitsgetreu nachzuempfinden, sind die gewölbten, niedrigen Wände mit schwarzem Kunstleder ausgekleidet. Rötlich leuchtende Zellophanfenster stellen durchblutetes Gewebe dar. Und es vermittelt tatsächlich ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit. In der tiefen Höhle kann man, etwas gebückt, die Verschmelzung zwischen Eizelle und Samenzelle beobachten. Ein Mensch wird gezeugt.
Neun Monate in fünf Minuten
Ich nehme Platz auf der Schleimhaut-Sitzfläche aus schwarzem Leder und sehe auf dem im Muskelgewebe eingebauten Monitor dem Embryo beim Wachsen zu. Im Hintergrund gluckert es gedämpft, wie es in einem Bauch blubbert, wenn man das Ohr darauf legt. Was in der menschlichen Natur neun Monate dauert, durchlaufe ich in fünf Minuten. Bis die Geburtsstunde schlägt: Wie das Baby rutsche ich - vorbei an reellen Fotos einer Niederkunft - durch den Geburtskanal. Als ich den Kopf herausstrecke, lande ich nicht wirklich im Kreißsaal, sondern am Ende der Gebärmutter-Ausstellung. Vor mir baut sich ein riesiges Bild von einem Neugeborenen auf und Babygeschrei plärrt mir entgegen.
Reise zum Mittelpunkt der Erde
Wie neugeboren begebe ich mich aus den Tiefen des menschlichen Innern nun in die Tiefen der Mutter Erde. In Jules Vernes Roman "Reise zum Mittelpunkt der Erde" muss Professor Lidenbrock so einiges auf sich nehmen, um zum Mittelpunkt der Erde zu gelangen. Er muss Geheimschriften entschlüsseln, unterirdische Meere überqueren und Wege frei sprengen. All das bleibt mir im Science Center Bremen, Abteilung "Erde", zum Glück erspart. Durch einen blau beleuchteten Gang und eine Treppe gelange ich direkt zum Erdkern.
Ich befinde mich 6370 Kilometer unter der Erdoberfläche und stehe vor einem Becken brodelndem Magma - zumindest theoretisch. Praktisch wird es mir hier zu warm und ich begebe mich zurück an die Erdoberfläche. Stufe für Stufe bahnen ich mir den Weg nach oben und lasse den äußeren Erdkern, den unteren und den oberen Mantel hinter mir.
Dampfender Hexenkessel
Auf der Erdkruste angelangt, kann ich wieder aufatmen. Eine Abkühlung kommt mir gerade recht; also ab in die Eiskammer. Hier weht ein arktisches Lüftchen und warme Kinderhände haben sich auf der Eistafel verewigt. Doch die klirrende Kälte vertreibt mich und so will ich lieber sehen, was sich hinter dem rätselhaft dampfenden Hexenkessel verbirgt. Schnell habe ich begriffen, dass ich es hier mit Wissenschaft und nicht mit schwarzer Magie zu tun habe: Der weiße Qualm, der über die Ränder des Kessels zu Boden sinkt, ist eine Wolke. Diese Wolke aus feinem Nebel entsteht, weil feuchte Luft abkühlt. Das nennt man Kondensation. Wie in dem Becken im Science Center kann man manchmal in freier Natur beobachten, wie diese Ansammlung von Wassertröpfchen über den Bergrücken nach unten schwappt.
Zwei Jahre lang telefonieren
Alle drei Expeditionen enden jeweils im Bereich "Zeit". Er soll mir die unfassbaren Relationen der Größe Zeit begreifbar machen. Einmal die Sanduhr gedreht, erzählt sie jedem Besucher, dass in einer Minute weltweit 101 Menschen sterben und 260 geboren werden, dass jeder Mensch zwei Wochen seines Lebens nur mit Küssen, sechs Monate auf der Toilette und zwei Jahre mit Telefonieren verbringt. Mein subjektives Zeitgefühl hätte das nicht für möglich gehalten, geschweige denn selbst feststellen können.
Tierische Herzschläge
Während die Sanduhr aufzählt, was in einer Minute alles passiert, tickt es unregelmäßig hinter mir. Dieses Ticken kommt von den Musikmetronomen, die an der Wand hängen. Nebeneinander pendeln ihre Zeiger in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Unter jedem Metronom befindet sich ein kleines Tier aus Gips in einem beleuchteten Glaskasten. Tick, tack, tick, tack. Die Metronome stellen den Herzschlag des jeweiligen Tieres dar. Das Herzchen des Igels pocht ganz schnell und am Ende der Reihe imitiert das Metronom den gemächlichen Herzschlag des Schweins.
Viel Lärm um nichts
Über die Wände des Bereichs Zeit tönt die Musik aus einem anderen Abteil. Dieser Bereich überflutet mich mit Geräuschen und Rhythmen und ich fliehe in das schwarze Holzhäuschen, in der Hoffnung, dem Lärm zu entkommen. Mit einem Stethoskop soll ich in mich hinein hören, nämlich mein eigenes Herz abhören. Ich stecke die Stöpsel des medizinischen Gerätes in die Ohren und lege den Schalltrichter an meinen Brustkorb. Es bleibt still, nur in ganz weiter Ferne höre ich ein leises Herzpochen, während ein gelangweilter Junge den Metalldeckel des Abfalleimers neben dem Häuschen auf- und zuschlägt.
Und plötzlich sagt mir mein Zeitgefühl, trotz oder gerade wegen dieser Flut an Reizen, es wird Zeit zu gehen. Am Ausgang der Wissenschaftslandschaft "Zeit" steht auf einem Schild geschrieben: "Wenn ich jetzt sterben müsste, würde ich sagen: ‚Das war alles?'. Und: ‚Ich habe es nicht richtig verstanden'. Und: ‚Es war ein bisschen laut'." Kurt Tucholsky spricht mir aus der Seele.