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Die Dramaturgin/Der Regisseur
Vielleicht sind sie so etwas wie die Chefs der Aufführung. Dramaturgin Susanne Meister, 43, und Regisseur Marco Štorman, 30, erwecken den Text zum Leben:
GEOlino: Setzen Sie fort: "Der Spiegel öffnet sich nur für den, der sich selbst nicht sieht. Jacob schloss die Augen ..."
Susanne Meister: "... und plötzlich war der Raum, den er hinter sich im Spiegel sah, nicht mehr das Zimmer seines Vaters."
Marco Storman (lacht):Mittlerweile kennt man die Geschichte echt in- und auswendig.
Erzählen Sie mehr: Worum geht’s in Reckless?
Um zwei Brüder, Jacob und Will, die durch den Spiegel in eine Märchenwelt gelangen. Samt Rotkäppchen und Feen, Grasmenschen und Goyl - das sind Steinwesen. Eines davon greift Will an, der nun nach und nach auch versteinert. Um seinen Bruder zu retten, begibt sich Jacob auf eine gefährliche Reise zur dunklen Fee; sie allein hat die Macht, die Versteinerung zu stoppen.
Die Buchvorlage ist 350 Seiten dick. Wie wird daraus ein anderthalbstündiges Theaterstück?
Indem sich Menschen wie wir damit beschäftigen. Zunächst Dramaturgen: Sie wählen das Stück aus, arbeiten es manchmal um, kürzen es. Und dann ist es an Regisseuren wie Marco, diesen Text zum Leben zu erwecken.
Wie denn?
Ich lese und lese und überlege gemeinsam mit der Dramaturgin: Was ist uns wichtig in dieser Geschichte? Bei Reckless ist es die Beziehung zwischen den Brüdern Jacob und Will, die sich zugleich lieben und hassen. Wenig soll davon ablenken: kein überbordendes Bühnenbild zum Beispiel. Was wir uns überlegen, gibt ein Stück weit auch die Richtung vor, in der die Bühnen- und Kostümbildner, Maske, Beleuchter weiterdenken.
Und dann?
Dann überlege ich mir, mit welchen Mitteln ich diese Geschichte auf der Bühne erzählen will. Wie spielen wir etwa jene Szene, in der 1000 Einhörner durch den Wald brettern? Wir können ja nicht 1000 Statisten über die Bühne jagen. Darum wird Jacob in dieser Szene total gehetzt sprechen -
sodass der Eindruck entsteht, er hätte 1000 Tiere im Nacken. Für mich ist es das Schönste, wenn bei der Erarbeitung des Stückes nach und nach solche Bilder in meinem Kopf entstehen und sich dann irgendwann wie ein Daumenkino verbinden.
Schöner noch als die ersten Proben und die Premiere?
Schon. Denn wenn das Stück zum ersten Mal auf die Bühne kommt, muss man es als Regisseur hergeben. Die Schauspieler bringen so viele eigene Ideen und Fantasie mit, dass sich vieles ja immer wieder verändert. Genau das ist gleichzeitig aber auch ganz wunderbar.
Der Bühnenbildner
Er verwandelt die Bühne in einen Märchenwald - und das mit wenig mehr als einer Schubkarre voll feuchter Erde und ein paar Steinplatten:Bühnenbildner Achim Römer, 57:
"Als mich Marco bat, das Bühnenbild von Reckless zu gestalten, war ich erst einmal verzweifelt. Diese Geschichte ist ein Bildersturm, sie spielt an vielen Orten: in einem Arbeitszimmer und im Wald, auf Felsen und in einem Gefängnis. Wir wollten diese Wirklichkeit nicht eins zu eins nachbauen - dann wären wir während der Vorstellung zwei Stunden damit beschäftigt, Kulissen hin und her zu schieben. Als Bühnenbildner gehst du darum vor, wie Kinder es tun: Die drehen einen Tisch um und schon ist es für sie ein Boot. Oder sie bauen Höhlen aus zwei Stühlen, über die sie ein Laken werfen. Und genauso versuche ich, die Zuschauer mit einfachen Mitteln in Fantasiewelten zu versetzen. Ich bin ein Fantasie- Verursacher, könnte man sagen. Wie man nun also einen Wald erzeugt, ohne dafür 100 Bäume auf die Bühne schleppen zu müssen? Zu Beginn habe ich mir nur ein paar Stichworte notiert: weicher Boden, Moos, Düsternis - all das steht für mich für Wald. So kam mir die Idee, auf der ganzen Bühne feuchte Erde auszustreuen und Äste zu verteilen. Im Hintergrund könnte ein rotes Zelt stehen. Wird es abgebaut, ist klar: Die Reise geht weiter. Und mit großen Steinplatten bahnen sich die Schauspieler dann den Weg in andere Welten. Mit diesen Ideen habe ich mich daheim zurückgezogen und ein Modell der Bühne gebaut. Daran orientieren sich später meine Kollegen in den Werkstätten, die die große Bühne herrichten."
Die Gewandmeisterin
Beate Dünnwald, 56, ist Gewandmeisterin am Thalia Theater. Sie fertigt die Kostüme, in denen die Schauspieler später auf der Bühne eine gute Figur abgeben:
Oben, im vierten Stock des Theaters, schwirrt eine Frau um eine Schauspielerin, die zur ersten Anprobe gekommen ist. Sie zupft, misst, steckt ab. Am Ende soll ein Steinkostüm entstehen. Noch aber gleicht die Darstellerin in diesem hautengen, grau melierten Anzug allenfalls einem vertrockneten Stock. "Das muss noch breiter und kantiger werden", sagt der Kostümbildner. Beate Dünnwald überlegt. "Wie wäre es", sagt sie, "wenn wir Schaumstoff-Stücke mit dem Stoff überziehen und an die Seiten nähen?" Der Kostümbildner nickt. Ja, so könnte es was werden. Beate Dünnwald ist Gewandmeisterin am Theater. "Gedanken-Wandlerin", sagt sie selbst. Die 56-Jährige und ihre Kollegen wandeln nämlich die Entwürfe der Kostümbildner in Kostüme um, sie machen deren Überlegungen fassbar.
Ganz am Anfang gibt es oft nicht mehr als eine Tusche- Skizze. Oder einen Zeitungsausriss. Oder dieses Foto eines grauen Gnoms. Genau so hatte sich der Kostümbildner die Robe für die Steinwesen in Reckless vorgestellt. An Beate Dünnwald ist es dann zu überlegen, ob man das auch wirklich fertigen kann und wenn ja - wie. Gibt es vielleicht schon ein ähnliches Kostüm im Fundus, das sich umnähen, anpassen ließe? Meistens aber schneidert sie die Roben ganz neu - jedem Schauspieler auf den Leib. Dann nimmt sie Maß, fertigt erste Papiermodelle des Kostüms an, wählt mit dem Kostümbildner den Stoff aus. Schön sein soll der, klar. Beate Dünnwald muss bei der Auswahl aber auch auf vieles andere achten: Kann sich der Schauspieler darin bewegen? Lässt sich Make-up daraus entfernen? Trocknet der Stoff schnell, wenn das Kostüm zwischen zwei Aufführungen gewaschen werden muss? "Neben einem Gefühl für Stoffe und Schnitte braucht man als Gewandmeisterin darum auch einen guten Realitäts-Sinn", sagt Beate Dünnwald. Außer Reckless stehen gerade drei weitere Theater- Premieren bevor. Ohne Pause schnurren darum dieser Tage die Nähmaschinen, es werden - ratsch! - die Kostüme zugeschnitten. Allein 30 müssen sie für Reckless fertigen: Roben für Gras- und Steinmenschen, Schlafanzüge für die Brüder, das prächtige Seidenkleid für die dunkle Fee. Nein, ein Lieblingskostüm habe sie nicht, sagt sie. Jedes sei schön - "solange es dem Schauspieler hilft, in seine Rolle zu schlüpfen".
Der Beleuchtungsmeister
Ohne ihn wäre die Aufführung eine ziemlich düstere Angelegenheit: Denn Ralf Scholz, 47, ist der Beleuchtungsmeister des Stückes:
Eigentlich ungerecht, dass der Mann, der die Aufführung ins rechte Licht setzt, meist im Dunkeln arbeitet. Es ist Dienstag früh, die Probe hat vor fünf Minuten begonnen. Auf der Bühne gehen die Lampen an. Ralf Scholz, Beleuchtungsmeister für Reckless, sitzt an seinem Regieplatz, einem kleinen Tischchen im dämmerdunklen Zuschauerraum. Über ein Mikrofon ist er mit dem Stellwerk verbunden, hoch über den Rängen. Von diesem Technikraum aus werden die Scheinwerfer per Computer-Steuerung bewegt, eingefärbt und in der Helligkeit geregelt. "Ab!", flüstert er nach der Eingangsszene ins Mikrofon. Hinter dem noch halb hinabgefahrenen Vorhang beginnt es zu flackern und zu blitzen. Ralf Scholz lehnt sich zurück. Zum ersten Mal sieht er, wie die Lichtstimmungen wirken, die er sich für jede einzelne Szene des Stückes ausgemalt hat. Hier etwa: "Gefährlich und geheimnisvoll", erklärt er. "Das klappt." Auf die Idee zu diesem Licht kam er neulich, in einer U-Bahn-Station. Am Ende des langen Tunnels war eine Leuchtstoffröhre kaputt, sie blinkte, flackerte. "Im ersten Moment dachte ich: gespenstisch. Im zweiten: Das ist die Eingangsszene", sagt der 47-Jährige. Es braucht technisches Wissen, um die vielen 100 Lampen und Strahler so einzustellen, dass sie die Bühne in gespenstisches, zartes, grelles oder bombastisches Licht tauchen. "Doch mindestens ebenso wichtig ist es, Theater zu verstehen. Und zu erfassen, wann in diesem Zusammenspiel von Bühne, Darstellern, Kostümen welches Licht nötig ist. Wenn man Licht auf den Punkt richtig setzt -
dann macht es Theater magisch."
Die Maskenbildnerin
Sie bringt Farbe ins Spiel: Maskenbildnerin Jutta Böge, 41, ist fürs Schminken der Darsteller verantwortlich - und für vieles andere mehr:
"Dass Maskenbilder nur Nasen pudern und Augen bemalen - diese Vorstellung sollte man sich sofort abschminken. Wir sind für alle äußeren Veränderungen am Schauspieler verantwortlich. Make-up ist da nur eine Aufgabe. Wir malen auch Tattoos, lassen Zähne verschwinden, schminken Narben und wulstige Wunden. Bei Reckless lassen wir Will versteinern. Dort hinten liegt sein Handschuh: Das ist Strumpfstoff, auf den wir grau-grüne Bällchen geklebt haben. Daneben steht die Gesichtsmaske. Zum Glück sind diese Dinge schon fertig. An den Perücken sitzen wir noch - die fertigen wir für jeden Schauspieler passgenau an. Das feuerrote Exemplar ist für die dunkle Fee. Knapp 60 Stunden arbeite ich an so einer Perücke: Jedes Haar wird einzeln geknüpft und geklebt, danach frisiert. Ich freue mich richtig darüber, mal wieder für ein Märchen wie Reckless arbeiten zu können. Viele andere Aufführungen in dieser Spielzeit sind eher nüchtern gehalten. Da ist es wunderbar, für die Feen-Perücken so richtig in den Farbtopf zu langen und verrückte Haarfächer auftoupieren zu dürfen. Was man für meinen Job braucht? Fingerfertigkeit, Fantasie und Einfühlungsvermögen. Denn ich komme den Schauspielern im Wortsinne hautnah, wenn ich sie bemale oder verunstalte. Außerdem sitzen die Darsteller direkt vor der Aufführung bei mir in der Maske. Sie sind nervös, manchmal fließen auch Tränen. Ich versuche, ruhig zu bleiben, schweige. Wenn es dann losgeht, herrscht Hochspannung. Ich sitze während der Aufführung direkt neben der Bühne. In Sekundenschnelle muss ich Perücken wechseln und - Nasen pudern."
Der Schauspieler
Auf der Bühne ist er plötzlich wieder ein kleiner Junge - und bald darauf ein Monster: Thomas Niehaus, 29, verkörpert die Hauptfigur Will Reckless:
Eine fünfstündige Bühnenprobe ist gerade vorüber. Thomas Niehaus sitzt mit müden Augen in seiner Garderobe
GEOlino: Sind Sie noch Will Reckless - oder schon wieder Thomas Niehaus?
Thomas Niehaus: Auf jeden Fall schon wieder Thomas Niehaus. In der Probe gerade eben mussten wir oft unterbrechen, um zu klären, wo genau das Zelt steht oder jener Darsteller in dieser und jener Szene. Um wirklich Will Reckless zu werden, muss ich das Stück durchspielen, anderthalb Stunden sprechen, handeln, mich bewegen wie er.
Woher wissen Sie eigentlich, wie dieser Will sprechen und handeln soll?
Durch den Text und durch die Gespräche mit dem Regisseur mache ich mir ein Bild von meiner Figur. Und dann muss ich auf die Bühne und spielen, spielen, spielen. Ausprobieren, welche Haltung, welcher Gesichtsausdruck, welche Körperlichkeit, welche Stimme zu Will passt. Man schlüpft dabei immer weiter in diese Rolle und spürt irgendwann, welche Regung, welche Bewegung stimmig ist.
Will ist schüchtern und schwächlich. Sein Bruder Jacob dagegen cool und stark. Hätten Sie diese Rolle lieber gespielt?
Nein, Will ist schon der, den ich spielen wollte in diesem Stück.
Warum?
Weil ich seine Verwandlung so spannend finde - wie aus diesem kleinen Jungen ein Monster wird, das versteinert ist und unglaublich hartherzig.