"Der Spiegel öffnet sich nur für den, der sich selbst nicht sieht. Jacob schloss die Augen. Er kehrte dem Spiegel den Rücken zu. Tastete hinter dem Rahmen nach irgendeinem Schloss oder Riegel. Nichts. Er blickte immer wieder nur seinem eigenen Spiegelbild in die Augen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff. Seine Hand war kaum groß genug, um das verzerrte Abbild seines Gesichts zu verdecken, aber das Glas schmiegte sich an seine Finger, als hätte es auf sie gewartet, und plötzlich war der Raum, den er hinter sich im Spiegel sah, nicht mehr das Zimmer seines Vaters."
Abenteuer in der Märchenwelt
Denn plötzlich war Jacob in der Spiegelwelt, in der Cornelia Funkes neuer Roman "Reckless" spielt. Es ist eine moderne Märchenwelt, die sie da beschreibt. Mit Eisenbahnen, die durch Märchenwälder fahren. Mit Zwergen, die Waffen herstellen. Dornröschen und das zornige Rapunzel tauchen auf - so viele bekannte Märchenfiguren, die faszinieren und sogleich fürchterlich sind. Aber genau deshalb zieht es auch Jacob, eine Hauptfigur des Buches, ja auch immer wieder dorthin. Und von jenem einen Tag an, da ihm sein kleiner Bruder Will klammheimlich nachfolgt, kehrt er nie wieder in die alte Welt zurück.
Denn Will wird von einem Goyl angegriffen, einem bösen Steinwesen, das ihn nun nach und nach versteinern lässt, äußerlich wie in seinem Innern.
"Für einen Moment hoffte Jacob wider besseres Wissen, dass es immer noch sein Bruder war, der sich aufsetzte. Aber sein Bruder war fort. Jede Spur von Menschenhaut war verschwunden. Will war nichts als atmender Stein. Der vertraute Körper in Jade gefasst wie ein spannendes Insekt in Bernstein."
Will hat nur eine Chance: die dunkle Fee. Sie allein kann den versteinernden Jungen von seinem Fluch befreien. Und so macht sich sein großer Bruder Jacob auf zu einer packenden Abenteuerreise durch diese verstörende Märchenwelt.
Fazit
"Reckless" ist sicher nichts für sanfte Gemüter. Die Wälder sind düster, die vielen Figuren auch. Dauernd tauchen neue alte Märchenfiguren auf. Manchmal, so hat man den Eindruck, muss mit Cornelia Funke die Fantasie durchgegangen sein. So wild würfelt sie die vielen Geschichten zusammen.
Dennoch: Das Buch nimmt gefangen. Einmal begonnen, kommt man nur schwer davon los. Wenn man zu dem 350-Seiten-Wälzer greift! Das Titelbild - mit dieser seltsam metallic-grünen Maske darauf - ist eher abschreckend. Viel schöner sind da die lllustrationen im Buchinnern, die Cornelia Funke selbst angefertigt hat.
So ist am Ende des Buches längst nicht alles gut - so oder so. Auch Wills Schicksal ist noch nicht entschieden. Aber "Reckless" wird ja weitergehen, Cornelia Funke hat Folgebände geplant. Und vielleicht nimmt darin noch alles seinen guten Ausgang. Wie im Märchen.
"Jacob schob die Hand unters Hemd und tastete nach dem Abdruck der Motte. Vielleicht bleibt dir noch ein Jahr. Und? Ein Jahr eine lange Zeit und in dieser Welt gab es für alles eine Medizin. Er musste sie nur finden."
Cornelia Funke: Reckless. Steinernes Fleisch. Dressler, 350 Seiten, 19.95 Euro, ab 12 Jahren