Es ist ein bewegender Augenblick, als Signe Preuschoft den Schlüssel im Schloss herumdreht und die Tür des großen Käfigs öffnet. Lange hat sie darauf gewartet - dann ist es endlich soweit. Gemeinsam mit ihrem Team entlässt die Affenforscherin im Januar 2012 sechs Orang-Utans nach jahrelanger Gefangenschaft wieder in die Freiheit.
Wir befinden uns auf Borneo. Die Insel im Pazifischen Ozean ist die drittgrößte der Welt. Nur wenige Menschen leben hier, weite Teile der Insel sind von dichtem Regenwald bewachsen - der perfekte Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten. Doch das Paradies in den Tropen ist seit vielen Jahren bedroht: Riesige Waldflächen wurden gerodet. Die Bäume mussten weichen, um Platz für Palmöl-Plantagen und Kohletagewerke zu machen.
Gefahr für die Orang-Utans: Der Mensch
Durch die Abholzung des Regenwaldes hat der Mensch die Lebensgrundlage vieler Tiere zerstört. Vor allem die auf Borneo beheimateten Orang-Utans leiden sehr darunter, weil sie in den Wäldern nicht nur Schutz, sondern auch Nahrung finden. Auf ihrer verzweifelten Suche nach Futter dringen die Menschenaffen in die Plantagen ein.
Die Besitzer sehen sie als Gefahr für ihre Ernte und heuern deshalb Jäger an. Mit den Jungtieren lässt sich beim Verkauf viel Geld verdienen, deswegen werden nur die ausgewachsenen Affen getötet. Auf grausame Weise sind bereits viele Orang-Utans ums Leben gekommen, die Art gilt mittlerweile als besonders bedroht.
Obwohl es Gesetze zum Schutz der Affen gibt, geht die Jagd auf sie weiter. "Auf Borneo herrscht ein Krieg, den die Menschen gegen die Natur führen und bei dem die Orang-Utans die Opfer sind. Die Tiere sind Vertriebene im eigenen Land.", so beschreibt Signe Preuschoft die katastrophale Lage auf der Insel. Die 51-Jährige Forscherin hat sich den Schutz der Menschenaffen zur Aufgabe gemacht.
VIER PFOTEN hilft
Im Auftrag der Tierschutz-Stiftung VIER PFOTEN reist Preuschoft im Jahr 2007 das erste Mal nach Borneo, um dort die Arbeit der einheimischen Organisation BOS (Borneo Orangutan Survival Foundation) zu unterstützen. BOS nimmt sich der Affenwaisen an, päppelt sie wieder auf und bereitet sie auf ein selbstständiges Leben in der Wildnis vor.
Doch das ist gar nicht so einfach. Die Babys haben den Tod ihrer Mutter erlebt und sind stark traumatisiert, wenn sie von Tierschützern bei der Organisation abgegeben werden. Orang-Utans sind Einzelkinder und brauchen viel Aufmerksamkeit. Normalerweise bleiben sie bis zum siebten Lebensjahr bei ihrer Mutter, zu der sie eine besonders enge Bindung haben. "Wir erleben es oft, dass sich die Babys eine Pflegerin als Ersatzmutter suchen", sagt Preuschoft. Man müsse allerdings immer darauf achten, dass sich die Tiere nicht zu sehr an die Menschen gewöhnen, schließlich will VIER PFOTEN sie wieder auswildern. Und dafür müssen die Affen lernen, auf sich allein gestellt zu sein.
In der Waldschule
Nicht ohne Grund werden Orang-Utans als Menschenaffen bezeichnet. Sie gehören zu unseren nächsten Verwandten und gleichen uns sehr - besonders was ihre Art zu lernen angeht. Darum hat das Team um Signe Preuschoft das Konzept der "Waldschule" entwickelt.
In Samboja, einem riesigen Waldgebiet, das die BOS Stiftung in mühsamer Arbeit wieder aufgeforstet hat, bringen die Pfleger den Tieren alles Wichtige bei, um in der Wildnis überleben zu können. Die Tiere lernen Klettern, wie sie sich ein Schlafnest bauen, wie sie Nahrung finden und wie sie sich in der Wildnis zurechtfinden können, damit sie ohne die Hilfe von Menschen zurechtkommen.
Beherrschen die Tiere all diese Fähigkeiten, gelten sie als "waldschlau" und können ausgewildert werden.
Der Weg in die Freiheit
200 Kilometer entfernt vom Schutzgebiet Samboja befindet sich der Wald, in den die sechs Affen gebracht werden sollen. Wegen der schlechten Straßenverhältnisse auf Borneo dauert es mindestens einen Tag, um mit dem Auto dorthin zu gelangen. "Für die Affen wäre das zu belastend. Wir müssten sie betäuben, damit sie eine so lange Fahrt überstehen.
Das wollen wir nicht und haben uns für den Transport mit einem Helikopter entschieden.", erzählt Preuschoft, die mit zwölf Tierpflegern die Auswilderung begleitet. Am Abend vor dem Aufbruch polstert das Team große Käfige mit Handtüchern, Zweigen und Blättern aus. Darin übernachten die Orang-Utans, um sich schon einmal an die beengte Umgebung während der Reise zu gewöhnen.
Gemeinsam mit Helfern vom Militär bricht die Gruppe auf. Nach einem kurzen Flug gelangen sie zu ihrem Landeplatz. Von dort geht es mit Geländefahrzeugen weiter - immer tiefer in den Regenwald hinein. Es gibt keine Straßen, nur langsam kommen sie voran. Und dann fängt es auch noch an, in Strömen zu regnen. Ein Fluss ist über die Ufer getreten und zwingt die Pfleger zur Rast. Sie können ihn nicht überqueren und müssen eine Nacht warten, bis sich der Wasserstand gesenkt hat.
Das letzte Stück des Weges kann nur zu Fuß zurückgelegt werden. "Es ist ein anstrengender Marsch", erzählt Signe Preuschoft. Bis zu 34 Kilo kann so ein Affe wiegen. In den schweren Käfigen tragen die Pfleger die Tiere über steile Hügel bis zu einer abgelegenen Lichtung. "Nur wenn wir so tief wie möglich in den Wald hineingehen, sind die Orang-Utans auch an einem sicheren Ort." Die Mühe hat sich also gelohnt.
Die Käfigtür öffnet sich. Zunächst sind die sechs Affen scheu und unsicher. Sollen sie sich hinaus in die unbekannte Umgebung wagen? Doch die Neugierde überwiegt. Schnell klettern sie hoch in die Bäume, um sich einen Überblick über ihr neues Zuhause zu verschaffen. Ein Jahr lang bleiben nun immer zwei Betreuer pro Tier vor Ort in einem Camp. Sie wollen sicher gehen, dass die Affen sich bald heimisch fühlen, dass sie genug Futter finden und gesund sind. Um jeden Einzelnen im Notfall zu finden, hat die Organisation sie mit Sendern ausgestattet.
Wie geht es jetzt weiter?
In der Stiftung freuen sich alle über den Erfolg des Projektes. Zurzeit betreut die BOS Stiftung 231 Orang-Utans. Damit ist die Auffangstation maßlos überfüllt. Doch von nun an werden in regelmäßigen Abständen kleine Affen-Gruppen in die Freiheit entlassen. "Das alles ist nur möglich wegen der vielen Menschen, die unsere Arbeit unterstützen."
Große Dankbarkeit spricht aus Signe Preuschoft, als sie erzählt, dass sich VIER PFOTEN ausschließlich aus Spenden finanziert. Es gibt der Forscherin Kraft, dass sich so viele Leute gegen die Ungerechtigkeit auf Borneo einsetzen und ihren Beitrag für die Orang-Utans leisten. "Wenn ich mal überfordert und erschöpft bin von der Arbeit, denke ich an all diese Helfer. Durch sie bekomme ich Auftrieb, um weiterzumachen. Ich kann ihnen gar nicht genug danken."