Beginnen wir mit einem Experiment: Versucht einmal, alle eure Sinne auszuschalten. Schließt Augen und Mund, haltet euch Ohren und Nase zu. Jetzt könnt ihr weder sehen noch schmecken, hören oder riechen.
Aber ihr fühlt noch! Den Boden unter euren Füßen zum Beispiel. Oder eure Haare, die im Gesicht kitzeln. Das ist auch gut so, denn die Fähigkeit, Berührung zu spüren, ist für uns Menschen fast so wichtig wie die Luft zum Atmen.
Bestens vernetzt
Der Tastsinn ist nicht nur der einzige Sinn, der immer aktiv ist. Er ist auch der erste, der sich im Leben entwickelt. Schon mit acht Wochen spürt ein ungeborenes Kind erste Berührungen, etwa ein Streicheln über den Bauch der Mutter.
Zu diesem Zeitpunkt ist der Embryo kaum größer als ein Gummibärchen: zwei Zentimeter. Ab der zehnten Woche beginnt er, sein Gesicht zu betasten. Bald ist seine Körperoberfläche mit einem Netzwerk ausgestattet, das Wärme, Kälte, Druck oder Schmerz spürt – und das ihn sein ganzes Leben lang begleitet.
Bis zu 20 Millionen empfindliche Sinneszellen stecken in unserer Haut. Besonders dicht sitzen diese "Berührungsmelder" an der Zunge, den Lippen und Fingerkuppen, mit denen wir die Welt ertasten. Alle Sinneszellen sind mit Nervenenden verbunden, die blitzschnell Signale ans Gehirn senden. Dabei gibt es verschiedene Nachrichtenwege und Botschaften.
Manche Nervenfasern melden zum Beispiel, wenn wir etwas Hartes anfassen oder wenn uns etwas juckt. Außerdem besitzen wir ganz spezielle Verbindungen, die vor allem am Rücken, an den Oberschenkeln, an Kopf und Schultern verlaufen und auf langsame, gleitende Bewegungen reagieren - auf Streicheleinheiten.
Berührungen haben eine beachtliche Wirkung
Wenn es schon eigene Leitungen für sie gibt, müssen Zärtlichkeiten sehr wichtig für uns sein. Und tatsächlich: Solche angenehmen Berührungen bringen unser Gehirn auf Hochtouren. Tief im Zentrum wird dann das Hormon Oxytocin ausgeschüttet, ein echter Wunderstoff. Er bewirkt, dass wir ruhiger atmen, senkt den Herzschlag und den Blutdruck – er lässt uns entspannen.
Mehr noch: Oxytocin schützt uns vor Krankheiten, lindert Schmerzen und sorgt dafür, dass Menschen lieben und vertrauen können. Es macht Kinder kräftiger und klüger, denn angenehmer Körperkontakt lässt neue Verknüpfungen im Gehirn entstehen.
Wissenschaftler haben diese erstaunlichen Wirkungen von Berührungen in zahlreichen Studien nachgewiesen. Zu früh geborene Zwillinge entwickelten sich besser und schneller, wenn sie beieinander liegen und sich umarmen konnten. Patienten spürten weniger Schmerzen, wenn jemand ihre Hand hielt. Kellner bekamen mehr Trinkgeld, wenn sie ihre Gäste vorher leicht am Arm berührten und ihnen damit ein gutes Gefühl gaben.
Umgekehrt bedeutet das allerdings auch, dass Menschen, die selten berührt und gestreichelt werden, eher krank, ängstlich und unglücklich sind. Für Tiere gilt übrigens genau das Gleiche: Rattenbabys, die nicht von ihrer Mutter abgeleckt werden, verkümmern und sterben sogar. Fehlende Berührung bedeutet eben für alle Säugetiere: Du bist allein und kannst nicht überleben.
Der Tastsinn: Ein unterschätzter Sinn
Dass unser Tastsinn so bedeutsam ist, haben Wissenschaftler lange unterschätzt. Wenn das Gehirn die Wahl hat, vertraut es nämlich eher den Augen und Ohren, selbst wenn das Gefühl richtig liegt. Ein Beispiel: Ihr sitzt in einem stehenden Zug, und auf dem Nachbargleis setzt sich ein anderer in Bewegung. Ihr seht die Waggons vorbeiziehen und seid plötzlich überzeugt, selbst zu fahren. Dabei fühlt ihr ganz genau: Ihr rührt euch nicht von der Stelle.
Situationen wie diese haben Wissenschaftler dazu gebracht, den Tastsinn genauer zu erforschen und weitere Erkenntnisse zu sammeln. Wusstet ihr etwa, dass unser Körper trickst, damit wir einander öfter berühren? Er macht uns vor, dass sich fremde Haut weicher anfühlt als die eigene - noch ein Experiment, das ihr unbedingt mal ausprobieren solltet…
Dieser Beitrag stammt aus GEOlino Nr. 04/2018 "Familientreffen". Das Heft könnt ihr im GEO-Shop bestellen.