Blick auf die Uhr. Fünf Minuten zu spät. Schlitternd blieb Johanna vor einer der kanarienvogelgelb gestrichenen Türen stehen, holte keuchend Atem und klopfte an. Nach dem sie ein barsches "Herein!" vernommen hatte, holte sie noch einmal tief Luft und trat ein. Herr Lockenkinn würde ihr mal wieder einen sterbenslangweiligen Vortrag darüber halten, wie das früher so war und das er und seine Mitschüler es sich niemals getraut hätten, auch nur eine halbe Minute zu spät zum Unterricht zu erscheinen. Aber die Zeiten, in denen man Schläge mit dem Rohrstock bekam, waren längst vorüber.
Doch im Klassenzimmer stand nicht wie üblich der dickbäuchige, stets nach Qualm riechende Herr Lockenkinn, sondern ein schlaksiger, junger Mann mit tiefschwarzem Haar. "Entschuldigung, ich habe verschlafen.", sagte Johanna ohne Umschweife, sie war öfter einmal spät dran. "Guten Morgen. Ich bin Herr Silber", stellte sich der Mann vor. "Ich vertrete euren eigentlichen Lehrer eine Weile. Er ist bedauerlicher Weise erkrankt. Und du bist…?" "Johanna Kristelin.", klärte sie ihn auf. "Ah, Johanna…wo hab ich den Umschlag nur wieder hingetan?" Herr Silber suchte in seinem himmelblauen Aktenkoffer herum, bis er einen länglichen, grünlich schimmernden Umschlag zu Tage beförderte. Er las die Anschrift vor: "Johanna Kristelin, Neonisgasse 7, Graldensburg. Ist das deine Anschrift?" Er sah sie fragend an. "Ja", antwortete Johanna recht verblüfft. Wie kam dieser wildfremde Mann an ihre Adresse? Er durchquerte mit langen Schritten den Saal, blieb vor Johanna stehen und beugte sich zu ihr hinab. Dann flüsterte er ihr mit leiser Stimme, so dass nur Johanna es verstehen konnte, ins Ohr: "Im Umschlag ist eine Zauberformel. Sprich dreimal hintereinander aus. Du gebietest über die notwendigen Kräfte. Sie wird dich nach Bresgomenta bringen. Dort wird dir alles Weitere erklärt werden. Gehe auf den Gang. Beeil dich!" Hastig trat Johanna wieder auf den Gang hinaus und schloss die Tür, den Umschlag fest in der Hand. Sie hatte sich immer schon gewünscht, etwas Magisches zu entdecken, wieso also nicht einfach mal ausprobieren?
"Rahekto mislore atemer
Lirometawired solidi newer."
Prompt wurde sie in einen Strudel aus Farben gerissen, bis sie auf einem silbernen Sofa landete. Eine schlanke Frau mit langem, blauem Haar saß ihr gegenüber auf einem ebenfalls silbernen Stuhl mit hoher Lehne. "Guten Tag, Johanna." Johanna hatte es schlichtweg die Sprache verschlagen. "Ich bin Aurelia, die Königin der silbernen Sonne. Du fragst dich sicher, weshalb du hier bist. Nun, dein Geburtstag ist der 23. April, der einzige Tag, an dem unser Stern von der Erde aus zu sehen ist. Damit bist du im Zeichen der silbernen Sonne geboren. Konntest du mir bis hierher folgen?" Johanna nickte stumm. Ihrer Stimme traute sie noch nicht. "Nur alle vier Jahre wird jemand an diesem Tag geboren, dieser ist dazu bestimmt, die magische Hülle, die unseren Stern umgibt, zu erneuern. Dieses Mal wirst du es sein. Es ist keine sonderlich schwierige Aufgabe. Dieses Buch ist für dich. Schlage nach, um den Spruch zu erfahren und danach zur Erde zurück zu reisen. Magie wirst du immer beherrschen." Aurelia zog ein dickes Buch unter ihrem Gewand hervor, reichte es Johanna und verschwand spurlos. Ein paar Minuten lang saß Johanna einfach nur da, dann schlug sie das Buch auf und fand gleich auf der ersten Seite die Formel. Leise flüsterte sie sie vor sich hin. Gleich in Anschluss darauf den Spruch, der sie nach Hause bringen sollte und kurz darauf stand sie wieder vor ihrer Klassenzimmertür. In dem Moment klingelte es zur Pause und Johannas Mitschüler kamen auf den Gang. Rasch ließ Johanna das Buch in ihre Tasche gleiten und ging raus auf den Hof. Doch von da an wunderten sich ihre Eltern nicht nur über ihre plötzlichen guten Noten, sondern auch über allerlei andere Dinge, die ihre Tochter vollbrachte.