Sanft rieselten die weißen Flocken vom Himmel.
Die sechzehnjährige Tika und ihr Begleiter Thari kämpften sich mühsam durch das verschneite Dickicht.
So schlimm hatten sie den Winter noch nie erlebt.
Ein halbes Jahr war es nun schon her, dass sie ihre Rucksäcke gepackt hatten um ihre Schamanenausbildung abzuschließen, was hieß, dass sie sich auf Wanderschaft begaben, um ihre erlernten Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Das war einfacher gesagt, als getan, denn der Winter hatte begonnen und Tika und Thari wurden zunehmend schwächer, da die Nahrung knapp wurde.
So war es ein Segen für die Beiden, als sie in der Ferne ein Tal erblickten.
Sicher lebten dort viele Tiere, die sie jagen konnten und die umliegenden Berge boten Schutz vor dem eisigen Wind.
"Es dauert noch mindestens einen halben Tag, bis wir unten ankommen!", meinte Tika erschöpft.
"Ich glaube, wir sollten uns kurz ausruhen", schlug Thari vor und lies sich auf einem umgefallenen Baum nieder. Vorsichtig berührte Thari das magische Amulett, das er um den Hals trug. Die magischen Kräfte, die ihm zugeschrieben wurden waren wohl erfunden, zumindest war bis jetzt noch nichts Ungewöhnliches geschehen. Es war ihnen nicht gelungen mit den Geistern in Verbindung zu treten.
"Es ist wirklich ein Jammer. Wir haben gesungen, getanzt, Riten befolgt und es auch mit Gebeten versucht. Wir werden es nicht schaffen", sagte sie besorgt und setzte sich neben ihren Freund auf den Baumstamm.
"Wir werden es schaffen!", versicherte Thari seiner Freundin und strich ihr beruhigend übers Haar. Tika lächelte sanft.
Leise stimmte sie ein uraltes Schamanenlied an und nach kurzer Zeit begleitete Thari die Melodie auf seiner hölzernen Flöte.
"Ich glaube, wir sollten weiter gehen", sagte Tika, und stand auf. Thari packte seine Flöte ein und folgte ihr. Um sich die Zeit zu vertreiben erzählten sie sich Geschichten.
Langsam wurde es dunkel und es begann erneut zu schneien.
Schließlich kamen beide an einen steilen Hang. Er war rutschig und sie mussten aufpassen, wo sie hintraten. Ständig rutschte Thari aus und einmal konnte er einen Absturz nur verhindern, indem er sich an einer Wurzel festhielt.
Plötzlich verlor Tika den Halt und stürzte nach unten.
Thari war entsetzt. Schnell kletterte er den Rest des Hanges hinunter.
Tika lag neben einem Felsen und krümmte sich vor Schmerz.
Sie hatte eine blutende Wunde am Kopf. Es sah fürchterlich aus.
Thari bekam Angst. Er hatte keine Ahnung, wie man eine solche Verletzung behandelte.
Er versuchte Tika zu trösten. Vorsichtig hüllte er sie in eine Felldecke, um sie vor der Kälte zu schützen. Aus seinem Rucksack nahm er trockenes Holz und zündete ein wärmendes Feuer an. Sie hatten noch ein anderes Problem, denn hier im Freien, waren sie eine leichte Beute für Raubtiere.
In den nächsten Stunden verschlimmerte sich Tikas Zustand. Sie zitterte heftig und bekam Fieber und Schweißausbrüche. Die Wunde blutete heftig.
Thari schürte das Feuer und murmelte unablässig Gebete und hoffte auf die Hilfe der Geister. Nichts geschah. Thari hatte schreckliche Angst um Tika.
Wenn nun kein Wunder geschah, würde Tika vielleicht sterben.
Thari gab nicht auf.
Auf einmal begann das Amulett um Tharis Hals merkwürdig aufzuleuchten.
Der Junge erschrak. Das Feuer knisterte laut.
Kleine Flammen wanden und verformten sich zu Wesen, flatterten um Tharis Kopf und landeten sanft neben Tika. Es waren Schmetterlinge.
Wehklagende Gesänge ertönten.
Tika hörte auf zu atmen. Ihr Körper erschlaffte.
Thari schrie entsetzt auf.
Der Rauch des Feuers verdichtete sich. Das Amulett glühte jetzt eisblau.
Die Gesänge wurden lauter. Funken stoben.
Der Rauch verzog sich wieder.
Tika war verschwunden…
Verzweifelt rief Thari nach seiner Freundin.
Keine Antwort!
Thari erschrak. Etwas bewegte sich hinter den Bäumen.
Es war Tika. Sie lächelte und fiel Thari um den Hals.
"Die Geister haben mich geheilt! Wir haben es geschafft", sagte sie glücklich.
Dankbar betrachtete Thari das Amulett. Nun konnten sie zu ihrem Clan zurückkehren.