Reich der Olim (Clara Pietrek, 12 Jahre)

Immer, wenn ich mit meiner Familie zu Oma fahre kommen wir an ihm vorbei. Am Zaun. Super, ein Zaun!, denken jetzt vielleicht ein paar von euch. Aber der Zaun, den ich meine, ist etwas ganz besonderes. Alles begann damit, dass wir Anfang der 7. Klasse eine neue Schülerin bekamen. Amelie. Sie war ungewöhnlich, und selbst nach mehreren Wochen konnte keiner sich an sie gewöhnen.

Keiner wusste woher sie kam.

Eines Nachmittags, es war ein regnerischer kalter Novembertag, klingelte es bei uns an der Haustüre. Ich öffnete und dort stand Amelie. "Komm schnell mit!", flüsterte sie. Ich wurde neugierig und folgte ihr.

Wir liefen die Straße herunter. An der Haltestelle stiegen wir in den 533er Bus und fuhren bis zur Endstation. Langsam wurde ich misstrauisch. Was wollte sie mir zeigen? Wieso war ich eigentlich mitgekommen? Der Regen klatschte mir ins Gesicht, ich sah alles nur noch verschwommen. Meine Hose klebte an mir wie eine zweite Haut. Mir war kalt und ich wollte wieder nach Hause. Aber das ging jetzt nicht mehr. Wir liefen und liefen. Plötzlich erkannte ich Omas Straße, mit dem Zaun. Davor blieb Amelie stehen. Sie hob eine Latte hoch und krabbelte durch den Spalt. Ich kam hinterher. Plötzlich wurde mir ganz warm. Irgendetwas blendete mich, ich schloss die Augen. "Aufstehen!", befahl mir Amelie. Ich stand auf und öffnete die Augen. Und was ich da sah, konnte ich so schnell nicht mehr vergessen.

Wir rannten durch einen Wald, Trampelpfade entlang. Wir sprangen über Pfützen und kletterten über Holzstämme, die den Weg versperrten. Plötzlich sah ich eine Waldhütte, auf die Amelie zusteuerte. Sie klofte an und öffnete die Tür. Und ein zweites mal an diesem Tag konnte ich meinen Augen nicht trauen. Ich zwickte mich in den Arm. Nein! Ich träumte nicht: In dieser unscheinbaren Holzhütte war eine Eingangshalle mit Marmorboden und Spiegeln mit goldenen Rahmen. Nochmal zwickte ich mich. Nichts! Amelie betrat den Raum und ich folgte ihr, immer schön vorsichtig, einen Fuß vor den Anderen. (Was? Könnte doch sein, dass ich Halluzinationen hatte und gleich in ein Loch purzeln würde, oder so!) Plötzlich sah ich, dass noch witere Türen von dem Raum abgingen. Ich fühlte mich wie in einem Kinofilm: Reise ins Ungewisse!, oder so etwas. Wie konnte auf so kleinem Raum so viel Platz sein?

Jetzt endlich, nach mehreren Stunden, drehte sich Amelie zu mir um. "Meine Mutter ist krank. Du musst sie heilen!" Waas??? Ich, Samantha Smith, 12 Jahre, sollte eine kranke Frau heilen? "Sie leidet an Hiphlegorolüscher Phalung, und nur jemand von euch kann sie heilen. Du musst wissen, ich bin vom Volk der Olim. Der Einst." Ich erinnerte mich. Latein. Olim = Einst. Ja, soweit konnte ich folgen. "Das einzige was du machen musst, ist, es zu schaffen, sie zum Denken zu bringen. Sie hat es vergessen. Du weißt doch hoffentlich, wie es geht?" Denken konnte ich. Nur setzte das in diesem Augenblick leider aus. "Du musst ihr Fremden-Atem einhauchen, und da du ein Fremd bist, müsste es für dich nicht so schwer sein. Oder?"

Ich kam in das Zimmer der Ola, so heißen, laut Amelie, die Herrinnen der Olims. Dort lag sie, blass und schlafend. Vorsichtig hauchte ich ihr meinen Atem in ihren geöffneten Mund. Sie öffnete die Augen. "Danke!", flüsterte sie.

"Komm schnell raus hier. Ich bring dich nach Hause.", meinte Amelie, zerrte mich aus dem Schlafzimmer und dann raus in den Wald.

Wir liefen zurück durch den Wald, dann warf ich das letzte Mal einen Blick auf den Wald im Tal, durch den wir gekommen waren. Er leuchtete in allen Herbstfarben, die Sonne ging wie ein roter Feuerball am Horizont unter. Ich drehte mich um und kletterte ich wieder durch den Zaun.

Auf der Straße angekommen, regnete es wieder. Ich stieg in den 533er, hatte mich längst von Amelie verabschiedet. Ich hörte mp3-player, Madonna, stieg aus. Meine Mutter öffnete mir die Tür, sie machte mir einen heißen Kakao. Ich schlief wie ein Stein und träumte von Zäunen und Spiegeln.

Ach ja, ich sah Amelie erstmal nicht wieder.

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