Der goldene Kelch (Helmut Heit, 12 Jahre)

Wie jeden Morgen schleppte ich mich verschlafen ins Badezimmer. Ich war nicht besonders gut gelaunt, denn meine Lehrer hatten mir gestern wieder mal die Schuld an einer Rauferei gegeben, für die ich gar nichts konnte. Müde schaute ich mich in den Spiegel. Du Liebe Zeit, was war denn das? Ich sah eine Treppe in unseren Spiegel! Aber ich selber war nicht zu sehen. Sofort war ich ganz wach und griff neugierig mit der Hand nach dem Spiegel. Sie glitt hindurch und ich spürte kalte, feuchte Luft. Ich wollte zwar zuerst nach meinen Eltern rufen, aber ich überlegte es mir anders. Schließlich ist etwas Geheimes spannender, als etwas das jeder weiß. Ich stieg mit meinem Pyjama durch den Spiegel auf die erste Treppenstufe. Sie ging abwärts und war dunkel, aber aus irgendeinem Grund, konnte ich doch alles gut sehen. Als ich die steile Treppe vorsichtig hinunter gestiegen war entdeckte ich einen langen Gang. Mir fiel ein, dass das eigentlich unmöglich war, denn unser Spiegel hing an einer Außenwand. Doch ich ging den Gang trotzdem mutig weiter. Am Ende war eine große Holztür, die sehr geheimnisvoll wirkte. Langsam bekam ich etwas Angst, aber meine Abenteuerlust war stärker. Ich legte meine Hand auf die Türschnalle und drückte sie langsam hinunter. Dann zog ich vorsichtig an der Tür. Knarrend öffnete sie sich. Dahinter war ein großer Raum mit vielen steinernen Säulen. In der Mitte der Halle war ein Altar, auf dem ein glitzernder, goldener Kelch stand. Ich las die Inschrift, sie lautete:

Wer aus diesem Kelch trinkt, der nur einmal in tausend Jahren zu immer einem anderen Weg freigelegt wird, bekommt die Kraft des Zauberns.

Ich war aufgeregter als je zuvor. Behutsam setzte ich den Kelch an meine Lippen und nahm einen Schluck von der der magischen Flüssigkeit. Es fühlte sich sehr merkwürdig an, wie die Flüssigkeit meinen Hals hinunter glitt. Mir fiel ein wie ich den Zauber testen konnte. Ich wünschte mir ganz fest, angezogen, und fertig vor meiner Haustüre zu stehen. Tatsächlich funktionierte es! Ich stand vor der Haustür. "He Stefan!" rief meine Mutter plötzlich aus dem Fenster. "Bist du etwa wieder vom Balkon geklettert?" "Nein Mama! Alles ganz legal!" erwiderte ich und rannte strahlend in die Schule. Ich kam sogar rechtzeitig dort an. Und ich zauberte alle meine Lehrer nett.

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