Die Schulglocke klingelte und Lilly stand auf. Wie jeden Donnerstag ging sie zu ihrer Großmutter. Sie mochte ihre Großmutter sehr, sie liebte ihre fröhliche, aber stets nachdenkliche Art. Lilly hatte immer das Gefühl, ihre Großmutter käme aus einer anderen Welt. Auf dem Weg zu Großmutters Reihenhaus war Lilly so gedankenversunken, dass sie fast an der knallrot gestrichenen Tür vorbeigelaufen wäre. Sie klingelte und legte ihr Ohr an die Tür. Das machte sie immer so, um Omas Schritte zu hören. Die alte Frau öffnete und begrüßte sie freudig. Lilly drückte ihr einen Kuss auf die Wange und ging durch den Flur in die bunt eingerichtete Küche.
Nach dem Essen saß Lilly bei der Großmutter, um die Hausaufgaben zu machen. Lilly begann: "Wir sollen einen Aufsatz über Wunderwesen schreiben.". Ihre Großmutter schreckte hoch: "Was? Über Wunderwesen?". Lilly, die sich über diese Reaktion wunderte, antwortete kurz: "Ja!". Großmutter fragte: "Warum schreibst du nicht?". Lilly dachte nach und sagte: "Ich kann schlecht über etwas schreiben, an das ich nicht glaube." Da atmete Großmutter tief ein, wie sie es immer tat, wenn sie eine lange Geschichte erzählen wollte und begann: "Als ich ein kleines Mädchen war, wohnte ich schon in diesem Haus. Ich glaubte nicht an Wunderwesen. Märchen waren für mich Unterhaltung, sonst nichts. Doch einmal, als ich in den Garten ging, um die Rosen zu gießen, fiel ich in den kleinen Teich. Dort sah ich Dinge, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich wurde empfangen von einem Wichtel, der halb so groß war wie ich. Er erzählte mir etwas in einer Sprache, die sanft und zart klang. Zu meinem Erstaunen verstand ich ihn und antwortete ihm. Die fremde Sprache prickelte mir nur so von der Zunge. Ich ging mit ihm und bald standen wir vor einem wunderschönen, hell erleuchteten Schloss. Zuerst dachte ich, es wären Glühlampen, doch es waren kleine leuchtende Feen. Der Wichtel schnipste mit den Fingern und das Portal öffnete sich. Wir gingen viele Flure und Treppen entlang bis wir in einem Thronsaal ankamen. In ihm saß auf einer großen Blume eine wunderschöne Kreatur mit spitzen Ohren, hauchzarten Flügeln und einem feingewebten Diadem. Sie sagte, sie wäre die Elfenkönigin. Auch sie sprach die fremde Sprache. Sie erzählte von einem großen Problem für die Bevölkerung ihres Landes, dass durch mich verursacht worden wäre. Sie schnipste zweimal und eine prunkvolle, mit Edelsteinen verzierte Dose flog auf sie zu. Geschickt fing sie die Dose auf. Sie winkte mich näher und sagte, dass ein Mensch ihr Land nur mit ihrer Erlaubnis betreten dürfte. Sonst müsste sie das kostbarste Stück des ganzen Landes an diesen Menschen abgeben. So besagte es das alte Gesetz der Wunderwesen. Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und öffnete die Dose. Darin lag ein wunderschöner Ring, verziert mit Edelsteinen. Die Elfenkönigin sprach zu mir in Worten, die ich nie vergessen werde:
Bevor ich anstecke dir den Ring, muss ich etwas sagen, mein liebes Kind.
Werde schlafen 50 Jahr - länger, wenn dann kein Retter naht.
Schicke jemanden von den Deinen, der erlöst die von den Meinen.
Lass ihn bringen den Ring zurück, denn er ist unser ganzes Glück.
Kommt er nicht, wird unsere Welt untergehn, und wir werden nie mehr die Sonne sehn.
Dann drückte sie mir die kleine Dose in die Hand und ich wurde von einem leichten Wind fortgeblasen, bis ich mich im Teich wiederfand."
"Stimmt das wirklich, Oma?", fragte Lilly. Die alte Frau nickte: "Und heute ist es genau 50 Jahre her, dass ich in den Teich gefallen bin. Kannst du dir denken, was du tun musst, Lilly?". Lilly antwortete zittrig: "Ja." Großmutter stand auf, holte das kleine Kästchen und gab es ihr. Dann gingen sie in den Garten. Lillys Oma hatte ein Handtuch über den Arm gehängt. "Grüß sie von mir!", sagte Lillys Oma "Es wird nicht lange dauern." Lilly rief: "Ich werde sie erlösen!" und sprang mit einen Satz in den Teich. Die alte Frau lächelte und winkte Lilly hinterher.