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Buchtipp Reise mit Geigerzähler

Für ihr erzählerisches Sachbuch "Tschernobyl Baby" hat Merle Hibks die Menschen der immer noch verstrahlten Tschernobyl-Region besucht. Mit Leseprobe

Ein Kraftwerk außer Kontrolle: In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 schmelzen die Brennstäbe in Block vier des Kernkraftwerks von Tschernobyl. Was dann geschieht ist längst Geschichte. - Längst? 25 Jahre nach dem GAU (Größtanzunehmender Unfall) ist noch immer ein Sperrgebiet von 30 Kilometern rund um das zerstörte Atomkraftwerk von Tschernobyl hoch verseucht. Sicherheitsleute verweigern den Zutritt. "Denn dieses Areal birgt eine Gefahr, die weder sicht- noch hör- oder tastbar ist, eine Bedrohung, die sich den Sinnen verschließt. Die niemand wahrnehmen würde, wenn nicht die Schilder an den Straßenrändern wären, die mit leuchtend roten Buchstaben warnen: "(...) Radioaktive Gefahr!""

Katastrophe mit Strahlkraft

Buchtipp: Reise mit Geigerzähler
© Eichborn

Dennoch ist der erste Schock nach der Katastrophe bereits überwunden. So weit, dass sich inzwischen sogar ein Geschäft aus der düsteren Vergangenheit schlagen lässt: Das Computerspiel "S.T.A.L.K.E.R.", in dem Überlebende in der Sperrzone gegen Mutanten kämpfen müssen, ist ein makaberes Beispiel. Der sogenannte "Zonen-Tourismus" ein Anderes. Von staatlichen Agenturen organisiert, bietet er gut betuchten Urlaubern aus dem Westen einen Nervenkitzel der besonderen Art. Frei nach dem Motto: Auf Elefanten-Safari nach Afrika geht ja jeder. Doch wer traut sich schon die fünfbeinigen Kühe in der verstrahlten Zone zu füttern?!

Middle of nowhere

Eine die sich traut ist die Journalistin Merle Hilbk. Doch ihre Mühe wird enttäuscht: Der zerstörte Reaktor entpuppt sich als "Industrieruine in the middle of nowhere, profan, hässlich, unspektakulär." Weitaus spannender dagegen sind die zahlreichen Geschichten der Menschen, die im Schatten dieser Industrieruine ihr Leben wieder aufgegriffen haben. Einige sind seit dem GAU noch immer und andere mittlerweile wieder in der Tschernobyl-Region zuhause. Gemeinsam mit der Dolmetscherin Mascha Pastuschok begibt sich die Journalistin im Jahr 2009 auf eine mehrmonatige Spurensuche durch Belarus und die Ukraine. Sie treffen auf ehemalige Schüler aus den verstrahlten Gebieten, die jedes Jahr zur Erholung nach Deutschland fahren. Auf die Eltern der "Tschernobyl Babys", denen von ihren Landsleuten nachgesagt wird "Dummköpfe" zu sein. Oder auf die sogenannten Liquidatoren - gefeierte Männer, die in den ersten Tagen nach der Katastrophe dabei geholfen haben, Trümmer zu beseitigen.

Tschernobyl Baby

Durch Merle Hilbks erzählendes Sachbuch "Tschernobyl Baby" erhält die Katastrophe von 1986 ein menschliches Gesicht. Die spannende Mischung aus Roadtrip und Reportage gewährt aber auch Einblicke in die Innenwelt der Autorin. Als damals 17-Jährige stellte der GAU für Merle Hilbks ein einschneidendes Erlebnis dar: Deutschland "brodelte auf, brodelte zwischen Panik und Wut und dieses Brodeln wurde zu einer Energie, die die Gesellschaft veränderte". Tschernobyl hat also Merle Hilbks politisch resignierte Generation aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Doch die inzwischen 40-Jährige muss erst eine Reise durch das Katastrophengebiet unternehmen, um sich dieser Bedeutung klar zu werden: "Tschernobyl, bisher nur ein Gedanke, ein Bild in meinem Kopf, ist zum Leben erwacht, hier in den Ruinen von Pripjat. (...). Da begreife ich, wie sehr mich dieses Tschernobyl - dieser einst so weit entfernte Ort, an dem ich weder geboren wurde, noch jemals gelebt habe - geprägt hat. Da verstehe ich, dass auch ich ein Tschernobyl-Baby bin."

Fazit

Für ihre Reportage hat sich Merle Hilbk nicht nur der Strahlung in der Tschernobyl-Region aussetzen müssen. Sie wurde auch einer Trostlosigkeit gewahr, die sie im Nachhinein sagen lässt: "nie wieder würde ich zu einem solchen Ort reisen". Der Untertitel des Buches "Wie wir lernten das Atom zu lieben" ist also als blanker Sarkasmus zu verstehen. Denn viele der Menschen leben dort noch heute vor einer Endzeit-Kulisse. Der Wiederaufbau der zerstörten Region schreitet nur langsam voran. Kein Wunder: Nicht alle der damaligen Flüchtlinge sind bereit das Risiko von Kopfschmerzen und Übelkeit in Kauf zu nehmen, um in ihre alte Heimat zurückzukehren. Umso verdienstvoller ist Merle Hilbks Reise in die Tschernobyl-Region an deren Ende ein aufschlussreiches und emotional sehr waches Sachbuch steht.

Merle Hilbk: "Tschernobyl Baby. Wie wir lernten das Atom zu lieben", ab 14 Jahren, Eichborn Verlag, 17,95 Euro

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