Geistergeld
Huang Ning verneigt sich einmal tief, ihre Lippen flüstern ein kurzes Gebet. Dann greift die junge Taiwanerin neben sich in den Stapel mit Geldscheinen und wirft - ohne zu zögern - ein ganzes Bündel ins Feuer. Und noch eins. Und noch eins. In Windeseile haben sich die Flammen durch das Papier mit dem goldfarbenen Aufdruck gefressen. Süßlicher Geruch, der an Weihrauch erinnert, steigt aus der blechernen Feuertonne nach oben.
"Geistergeld" erklärt Ning und schaut den aufsteigenden Rauchschwaden hinterher. Sie verbrennt die Papierscheine, um die Geister ihrer verstorbenen Verwandten zu besänftigen. Zuvor hatte sie sich die Jenseitswährung für etwas diesseitiges Geld im Supermarkt an der Ecke besorgt.
Wichtige Währung im Jenseits
Ein wenig seltsam ist das Bild schon: Nicht nur vor der Wohnung von Nings Familie, selbst vor den edelsten Geschäften stehen die etwas schmuddeligen Tonnen oder gusseisernen Mini-Öfen. Und das nicht nur in den Straßen der Hauptstadt Taipei, sondern überall im ganzen Land! Wer sich nicht auskennt, könnte glauben, Obdachlose würden mit ihrer Hilfe kalte Nächte überstehen. Der Vergleich wäre eine glatte Beleidigung für jeden Taiwaner: Denn das Verbrennen von Geistergeld während des Geistermonats dient gleich zwei wichtigen Aufgaben.
"Je mehr Geld die Geister bekommen, desto schöner wird das Leben, das sie sich in der Unterwelt machen können", erklärt Ning. Denn umsonst gebe es auch in der Unterwelt nicht viel. Gleichzeitig hält die Gabe verstorbene Verwandte oder ziellos umherirrende Geister davon ab, Nings Familie zu sehr auf die Pelle zu rücken. "Es ist ein wenig wie Halloween", versucht das Mädchen einen Vergleich, "Ich gebe den Geistern etwas und sie lassen mich in Ruhe!"
Der Monat der Geister
In den restlichen Monaten des Jahres besteht kein allzu großer Grund zur Sorge, dass Geister Nings Familie bis nach Hause folgen. Denn in der Regel ist die Welt der Verstorbenen und die der Lebenden strikt getrennt. Doch einmal im Jahr, dem siebten Monat des chinesischen Monatskalenders, öffnen sich die Tore zum Jenseits einen Spalt breit. Geister und Seelen kommen dann aus der Unterwelt, um einen Monat lang in der Menschenwelt zu verbringen. So zumindest glauben es viele Taiwaner. Viele Tempel führen an diesem Tag Zeremonien durch, um den Geistern eine sichere Passage ins Diesseits zu gewähren. Denn obwohl man die Geister fürchtet, bringt man ihnen gleichzeitig tiefen Respekt und Ehre entgegen.
Trotzdem traut sich Ning im Geistermonat, wenn es dunkel geworden ist, nur noch selten vor die Tür. Kleidungsstücke, die nach Einbruch der Dämmerung noch draußen liegen, holt sie erst am nächsten Tag wieder herein. Zu groß die Gefahr, ein Geist könnte das vergessene T-Shirt als Geschenk missverstehen und dem edlen Spender ins Haus folgen. Ebenso wenig wird man einen Taiwaner während des Geistermonats in einem Fluss oder See schwimmen sehen. "Niemals", winkt Ning ab, "Die Seelen der Ertrunkenen sind neidisch auf die Lebenden und ziehen sie mit in ihr nasses Grab!"
Ob sie denn auch mit ihren verstorbenen Verwandten sprechen würde? Ning lacht unbequem auf: "Natürlich nicht, das ist doch viel zu gruselig!" Deswegen bleiben die Türen und Fenster nachts fest verschlossen. Man kann nie wissen. Bis das Ende des Geistermonats gekommen ist - und der Spuk ein Ende hat.