Er stand im Schatten der alten Tanne. Ihre Äste hingen, schwer vom Schnee, fast bis zum Boden durch. Dort, hinter den fächerartigen Vorhängen, lag kein Schnee. Der weiche, nadelübersäte Boden war kaum feucht. Er verriet nicht mit dem leisesten Rascheln oder Knirschen die vorsichtigen Schritte des Mannes, der abwartend durch die Äste blickte. Sie würden bald da sein, das wusste er. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er die Strasse. Sie schlängelte sich ruhig durch die verschneite Winterlandschaft und verschwand ein Stück weiter am Fusse eines steilaufragenden Felshangs. Weiter oben trat sie in einer Schlaufe auf einen Felsvorsprung hinaus und entzog sich dann dem Blick des Wartenden. Die Strasse war glatt von den vielen Pferdeschlitten, die täglich hier vorbei fuhren. Ja, es war eine befahrene Strasse. Es machte die Arbeit leichter. Geduldig stand er im Halbdunkel unter den schweren Ästen der Tanne und wartete. Seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen hingen unbewegt an der Stelle, wo die Strasse in einer Kurve auf dem Felsvorsprung sichtbar wurde. Wenn er die Zeit richtig einschätzte, musste der Schlitten jeden Moment dort auftauchen. Schliesslich wollten sie noch vor dem Abend die Stadt erreichen, wie sie im Gasthaus gesagt hatten. Die dumme Alte... Sie hatte ihr wohlgenährtes Maul besser nicht so weit aufgerissen...
Noch immer regte sich nichts. Er wusste, dass er die Glöckchen des Pferdegeschirrs schon von weitem würde hören können, doch es herrschte Stille. Bis auf ein paar vereinzelte Vogelstimmen, die kläglich in die Kälte fiepten und dem Wind, der eisig und hart über die glänzenden Schneeflächen wehte. Er spürte wie ihm die Kälte in die Glieder schlich, doch er ignorierte sie. Geduldig wartete er ab. Er war es gewohnt zu warten. Manchmal dauerte es Stunden bis ein Schlitten vorbei kam. Oder es war eine Eskorte des Königs dabei, die es ihm unmöglich machte, sein Versteck auch nur zu verlassen. Oh ja, er war ein geduldiger Mann. Man konnte es in seinem furchigen Gesicht sehen. Seine dunklen Augen verschwanden beinahe unter den dicken, schwarzen Brauen, die an der Nasenwurzel zusammenwuchsen. Seine flache, breite Nase machte den Eindruck, als wäre sie mehr als einmal gebrochen und wieder zusammen gewachsen und seine vollen Lippen waren aufgeplatzt von der Kälte. Ein stoppeliger Bartansatz bedeckte seine knochigen Wangen und an der rechten konnte man eine feine, weisse Narbe erkennen. Er hatte pechschwarzes Haar, das ihm leicht verfilzt in die Stirn fiel und ihn noch wilder wirken liess. Im ersten Moment schätzte man ihn älter als er tatsächlich war. Wenn man genau hinsah, konnte man im wilden Schatten seines Gesichts die beinahe vergessenen Züge eines jungen Mannes erkennen. Er war kaum älter als zwanzig. Doch das Leben in den Wäldern hatte seine Spuren hinterlassen...
Plötzlich spannte sich kaum merklich jede Faser seines mageren Körpers. Aus der Ferne erklang das Klingen von hundert kleinen Glöckchen. Er bewegte sich nicht, noch immer stand er da und beobachtete den Felsvorsprung. Das Klingen kam näher. Die sehnige Hand des Mannes schloss sich um den Griff eines Messers, welches an seiner Seite im Hosenbund steckte. Er hatte das hier schon so oft getan, doch noch immer stellten sich ihm sämtliche Nackenhaare auf, wenn er sich bereit machte...
Endlich erschien der Schlitten auf dem Vorsprung. Es war ein grosses, hölzernes Gefährt mit breiten, schweren Kufen. Vorn sass der Kutscher und schwang die Peitsche sirrend über die Köpfe der vier weissen Pferde, die mit Augenscheuen und zurück gebogenen Hälsen voranpreschten. Im Schlitten sass die Alte und zwei weitere Personen. Ihre Tochter und die Amme. Eingehüllt in dicke, wollene Tücher und Mäntel waren sie kaum zu sehen. Der Schlitten verschwand wieder.
Die Tanne stand direkt an der Strasse. Links und rechts von den Fahrspuren türmte sich der Schnee mannshoch und bot dem Wartenden eine gute Position. Die dunklen Augen des Mannes waren ruhig, fast andächtig, während er darauf wartete, dass der Schlitten unten am Fuss des Hanges erschien.
Still verharrend stand er da, bereit zum Sprung, gespannt wie ein Bogen, ähnlich einer Raubkatze die sich zum Angriff bereitmachte. Der Schlitten kam wieder in Sicht. Das Klingeln der Glöckchen war im Gegensatz zu der zuvor herrschenden Stille, fast ohrenbetäubend. Die Pferde schnaubten, die Peitsche sirrte durch die Luft und die Rufe des Kutschers hallten von dem Felsen wieder.
Es war so weit. Der Schlitten war jetzt auf gleicher Höhe mit dem Mann. Im selben Moment sprang dieser durch die Äste der Tanne. Der entsetzte Schrei der Alten gelte in seinen Ohren, als er sicher neben dem Kutscher landete und ihm mit einer blitzschnellen Bewegung die Kehle durchschnitt. Er versetzte dem Toten einen Tritt und stiess ihn vom Schlitten. Dann griff er mit geübter Hand nach den Zügeln. Die Pferde wieherten unruhig, warfen die Köpfe zurück und liefen noch schneller. Der Mann wandte sich nach den Frauen um. Alle drei hatten sich auf der anderen Seite des Schlittens zusammen gedrängt und starrten ihn mit schreckensgeweiteten Augen an. Er fragte sich, ob die Alte sich an sein Gesicht erinnerte. Dummes Huhn! Genau so dumm wie reich!
Mit einem lauten Ruf und kräftigem Zügelziehen brachte er die Pferde zum Stehen. Schnaubend und tänzelnd hielten sie schliesslich an. Der Mann band die Zügel fest und stieg nach hinten in den Schlitten. Wie sie dort sassen und ihn anstarrten. Wie ein kleiner Haufen verschreckter Schafe! Sie widerten ihn an.
"Endstation, werte Damen", sagte er mit einer rauen, tiefen Stimme, die es nicht gewohnt schien benutzt zu werden. Wie auch? Wann redete er schon? Er war fast immer alleine. Sie rührten sich nicht, sassen nur dort auf der Bank, in ihre teuren Pelze gewickelt und bibberten vor Angst. "Aussteigen!", befahl er. Seine ruhige Stimme verriet nichts von dem Hass, der in ihm aufkochte, wenn er in ihre wohlgenährten, dummblickenden Gesichter blickte. Endlich schienen sie sich wieder rühren zu können. Langsam erhoben sie sich, die starren Blicke noch immer ängstlich auf ihn gerichtet. Er sprang kurzerhand vom Schlitten, öffnete ihnen die Tür und zog die Leiter runter. "Bitte sehr", sagte er in dem selben ruhigen, fast netten Tonfall wie zuvor und bot der Amme seine Hand zur Hilfe an. Es kostete ihn einige Überwindung, doch er war ein geduldiger Mann. Er hatte sich Jahre darin geübt seine wahren Gefühle zu verbergen. Er war ein Meister der Täuschung.
Die Amme wich seiner Hand aus und versuchte selbst herunterzusteigen. Doch ihr wuchtiger Leib war zu ungeschickt und sie wäre beinahe gestürzt. Schliesslich griff sie widerwillig nach seiner Hand und liess sich helfen. Die Tochter war nicht weniger fettleibig, von der Alten nicht die Rede. Als schliesslich alle drei sicher vom Schlitten gestiegen waren, schwang er sich behände an der Seite des Schlitten hoch und setzte sich auf den Bock. Mit einem letzte Blick und der Andeutung eines Grusses schnalzte er mit der Zunge und die Pferde setzten sich wieder in Bewegung. Er blickte hinunter auf sein Messer. Das Blut des Kutschers klebte rot und in der blassen Landschaft leuchtend daran und er hatte das Gefühl es bedecke seinen ganzen Körper. Er hasste dieses Gefühl, er hasste den starren Blick seiner Opfer, wenn das Messer ihre Kehle durchschnitt, er hasste das Zucken ihres Körpers und das Spritzen ihres Blutes. Doch am meisten hasste er sich selbst dafür. Mit jedem Mal , da er das Messer an der alten, abgetragenen Hose abwischte, hatte er das Gefühl ein Teil seiner Seele zu verlieren. Erst jetzt bemerkte er die Tränen, die über sein narbiges Gesicht flossen. Mit leerem Blick starrte er auf die Strasse vor sich, während die Tränen seine Seele trösteten. Seine einsame, gebrochene Seele...