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Fortsetzungsgeschichte (Mary, 09.08.2005)

"Was soll denn das sein?" Mit verächtlich hochgezogenen Augenbrauen und zusammengepressten Lippen kam Fräulein Bal auf mich zu.

Oh - oh, das konnte nur Ärger geben. Ich versuchte noch, meine Strickarbeit unter dem Tisch zu verstecken, aber zu spät. Die spitzen Finger der Handarbeitslehrerin klaubten es mir schon aus den Händen und hielten es triumphierend in die Luft.

"Und das nennst du eine Strickarbeit?"

Die anderen Mädchen im Klassenraum lachten.

Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken und erst in hundert Jahren wieder herausgekommen. Flehend starrte ich den halb fertigen Schal in der Hand meiner Lehrerin an. Nun gut, OK, es war wirklich kein Meisterwerk. Ein bisschen löchrig, ja, vielleicht auch ein wenig zu ausgefranst, aber war das nicht neuerdings Mode? Die Farbe war doch auch ganz modern, blau mit Teeflecken und Schokolade. Das würde ein Ladenrenner werden!

Doch Fräulein Bal sah das anscheinend nicht so.

"Ich möchte, dass du bis morgen einen fertigen Schal bei mir ablieferst.

Und da dieser, äh, Lumpen, wahrscheinlich nicht mehr zu retten sein wird, wirst du noch mal von vorne anfangen." Hatte diese Frau sie eigentlich noch alle?

Mir kam es eher so vor, als wäre sie nicht mehr zu retten. Einen ganzen Schal in nur einem Tag stricken? Ich glaub es geht nicht mehr!

Ich legte schon zum Widerspruch an, doch da klingelte es und meine Worte wurden durch das Durcheinadergeschrei von 18 Schülerinnen unterbrochen, die laut sich unterhaltend ihre Sachen einpackten und auf den Pausenhof strömten. Und Fräulein Bal?

Die stolzierte zufrieden auf ihren hochhackigen Schuhen und dem Minirock nach vorne zum Pult, warf meinen Schal in ihre Tasche und wackelte hinaus. Mit meinem Ladenrenner!

Und ich saß alleine da.

Frustriert packte auch ich meine Stifte in meine Tasche.

Bevor ich den Reißverschluss schloss und mich auf dem Weg machte, schaute ich noch einmal auf dem Stundenplan nach, welches Fach als nächstes an der Reihe war, und ich jubelte auf: Englisch!

Ein Lichtblick in diesem schrecklichen Dilemma!

In Goethe-Sprache ausgedrückt.

Ich kicherte. Ja, Deutsch und Englisch waren wirklich meine Lieblingsfächer. Deshalb ging ich ja auch auf ein Neusprachliches Internat.

Noch nicht allzu lange, erst seit ungefähr 2 Wochen. Vorher war ich auf einem ganz normales Gymnasium, aber da meine Eltern wegen ihrem Beruf viel reisen mussten und fast nie daheim waren, beschlossen sie schließlich, mich auf ein Internat zu schicken.

"Ein Kindermädchen, was auf dich aufpasst, ist auf die Dauer teurer", hatte mein Vater gemeint. Und sich dann wieder in seine Zeitung vertieft.

Ich nahm das alles gleichgültig hin, ja, eigentlich freute ich mich auch ein wenig. Freunde, die ich auf keinen Fall verlassen wollte, hatte ich sowieso nicht. Da ich in meinem Leben schon öfter die Schulen aufgrund des Berufes meiner Eltern wechseln musste, hatte ich nie richtige Freunde finden können. Wir zogen immer wieder zu schnell weg, als dass sich Freundschaften vertiefen könnten. Nur ganz, ganz viele Brieffreunde hatte ich dann natürlich. Und denen konnte es ja egal sein, ob der Brief nun aus Berlin oder aus dem bayerischen Chiemgau, in dem schließlich das Internat lag, welches meine Eltern später für mich aussuchten, abgeschickt wurde.

Ich sah dem ganzen also relativ positiv entgegen.

Inzwischen war ich im Klassenzimmer angekommen.

Als ich hereinkam, nahm das keiner so richtig wahr. OK, war mir auch lieb so, kamen wenigstens keine doofen Bemerkungen über meine Strickarbeit. Unbeachtet setzte ich mich auf meinen Platz und packte meine Hefte aus. Ich saß ganz allein in der hintersten Reihe. Ein paar Mal schon wollte Frau Sendelbach, unsere Klassenleiterin, mich weiter nach vorne holen, aber keiner war bereit mit mir zu tauschen.

Ich nahm mein Englischbuch zur Hand und wiederholte die letzte Grammatik noch einmal. Wie war das?

Der Relativsatz wird immer von einem Relativpronomen eingeleitet. Das Relativpronomen lautet für Personen im Singular und Plural who, für Pflanzen, Dinge und Tiere wird which verwendet. Für beides kann man auch that einsetzen. Steht das Relativpronomen who im Akkusativ, darf man

Es durch . . .

"Oh-oh-oh, wie süß: Die Neue lernt schön fleißig den Stoff der letzten Stunde, damit sie bei der Abfrage schön glänzen kann. Wie überaus mitdenkend von ihr!"

Das war Theresa. Mit Sheida und Berna, ihren beiden Wackel-Dackeln, die ihr immer auf Schritt und Tritt folgten und zu jedem ihrer Worte ja und amen sagten.

Ich verdrehte die Augen.

Theresa hatte mich von Anfang an schon geärgert und aufgezogen, wo sie nur konnte. Von den anderen aus meiner Klasse habe ich mir sagen lassen, dass sie so jeden Neuen in der Klasse behandelte. Fast jeder von ihnen hatte diesen Terror irgendwann mal durchgemacht, denn Theresa war schon seit der ersten Klasse hier an der Schule gewesen. Das Mädchen, das mir an meinem ersten Tag die Schulräume gezeigt hatte, hatte mir erzählt, dass sie ihre Eltern schon früh durch einen Autounfall verloren hat.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, besonders nett zu ihr zu sein, eben weil sie keine Eltern mehr hat, doch schon als ich den Klassenraum das erste Mal betrat und Theresa mir gleich ein Bein stellte, sodass ich hinfiel und alle meine neuen Schulbücher quer durch das Zimmer flogen, war es bei mir endgültig aus mit Mitleid.

Ich fand in den 2 Wochen, in denen ich nun schon hier war, die beste Taktik heraus, mit der man Theresa am schnellsten wieder loswurde:

Ruhig bleiben und sich nicht provozieren lassen.

So auch jetzt: Ich versuchte kühl und gleichgültig zu reagieren.

"Wenn du willst, erkläre ich es dir auch noch mal.", meinte ich nur und schenkte Theresa ein zuckersüßes Lächeln, bevor ich mich wieder auf die Grammatik konzentrierte.

Doch Theresa gab nicht auf. Inzwischen sah die ganze Klasse zu ihnen hinüber und sie wollte sich nicht die Blöße geben. Nicht vor der Neuen!

"Nein danke. Ich muss nämlich im Gegensatz zu dir nicht alles noch einmal wiederholen, bis ich es kann.", zischte sie und Sheida und Berna glucksten im Hintergrund. Theresa stützte sich cool an der Tischkante ab und setzte ein lässiges Siegergrinsen auf.

Richtig bescheuert! Aber wie sie so dastand, mit ihren dunkelbraunen, glatten und fettigen Haaren, dem schmalen Gesicht auf einem dicken Hals und zwei Köpfe größer als alle anderen, wurde mir doch schon ein wenig mulmig zumute. Warum waren aber auch immer alle gegen mich?

Ich schaute mich im Klassenraum um. Alle starrten mich gehässig und mit einem abschätzenden gegen-die-bist-du-doch-sowieso-machtlos-Blick an, keine mitleidige Seele darunter. Nun gut, bis auf vielleicht eine:

Kiara. Sie war ebenfalls erst vor kurzem in das Internat gekommen und hatte ebenso wie ich noch keine richtigen Freunde gefunden. Sie war nach mir das beliebteste Opfer von Theresa. Und in ihrem Blick sah ich keine Schadenfreude, sondern aufrichtiges Mitleid.

"Aha, aha, aha. Unser Majalein sucht Beileid!", höhnte Theresa, als sie meinen Blick bemerkte. Sheida und Berna kicherten, natürlich.

"Aber du findest keins. Mit dir will keiner zu tun haben, nicht wahr?"

Sheida und Berna grunzten zustimmend und

die ganze Klasse lachte. Über mich.

Immer locker bleiben!, rief ich mir in Gedanken Mut zu und atmete tief durch. Lass dich nicht reizen, Maja! (Falls ich es noch nicht bemerkt habe, Maja ist mein Name.) Doch ich fühlte, wie ich rot wurde und meine Schläfen zu pochen begannen. Jetzt bloß nicht heulen!

"Gut. Sonst noch etwas?", erwiderte ich, doch meine Stimme zitterte und ich musste nicht sehr selbstbewusst geklungen haben.

"Nein, sonst nichts mehr. Dann lass ich dich jetzt mal schön weiter Grammatik üben, ne?"

Und damit stieß sich Theresa von der Tischkante ab und stolzierte von dannen, nicht ohne mir vorher noch einmal kräftig auf den Fuß zu treten.

Ein stechender Schmerz durchströmte meine Zehen, doch ich sagte nichts, sondern wandte mich mit zusammengebissenen Zähnen wieder meinem Englischbuch zu. Stossartig atmete ich aus.

Hoffentlich würde bald eine "neue Neue" kommen, damit ich endlich erlöst wäre.

Steht das Relativpronomen who im Akkusativ, darf man also . . .

"Hallo, Maja!"

"Wie, was?", erschrocken schaute ich von meinem Buch auf, an dem ich gerade gelesen hatte. "Die Geschichteninsel" von Siobhan Parkinson, ein echt tolles Buch. Es spielt in Island, ein Mädchen, Beverly, ...

"Hallo!" Schon wieder diese Stimme.

Widerwillig kam ich aus der Welt des Buches in die Realität zurück. Es war schon Abend, meine Hausaufgaben hatte ich längst erledigt und

Im Türrahmen meines Zimmers hier im Internat stand ein Mädchen:

Kiara.

Ohne viel zu erklären trat sie hinein, warf eine große Reisetasche auf das leere Bett neben mir (ich wohnte allein in einem Zweierzimmer, alle anderen waren schon voll besetzt gewesen) und fing an, den Inhalt auszuräumen und im leeren Schrank zu verstauen. Staunend schaute ich ihr eine Weile zu, bevor ich den Mund aufbekam: "Äh, * räusper* * räusper*, was wird das hier, wenn es fertig ist?" "Ich ziehe ein", antwortete Kiara fröhlich und ordnete ihre vielen T-shirts in eine Schublade. "Du ziehst ein? Aber ich dachte, du würdest bei Alexandra und Linda im Zimmer wohnen!"

"Ja, das habe ich ja auch. Allerdings kam heute ein Brief von Lindas Eltern, sie würde fortan auf eine andere Schule gehen, und da Alexandra mich nicht besonders gut leiden kann, ist sie zu Laura und Jasmin ins Nebenzimmer gezogen, sie haben zusammengerückt und noch ein Bett reingequetscht, und ich wollte dann zu dir."

Ich schnappte nach Luft. Sie wollte zu mir! Es war das erste Mal, dass jemand hier mich anscheinend gern hatte.

"Das, das ist ja toll!", stammelte ich.

Ich konnte mein Glück kaum fassen.

"Und wenn du jetzt aufgehört hast, mich anzustarren, als käme ich vom Mars, kannst du mir ja helfen, meine Tasche auszuräumen." "Oh ja, klar!" Ich stand auf und half Kiara dabei, ihre Schuhe im Schrank zu verstauen, dann ihre Socken und als wir schließlich fertig waren, setzten wir uns auf unsere Betten, Kiara machte Musik an und eine Weile wusste keiner so recht, was er sagen sollte.

Verlegen schauten wir beide unsere Zehen an.

Als wir aber unsere anfängliche Verlegenheit überwunden hatten, wurde es richtig schön:

Kiara erzählte mir von ihren Eltern, die Diplomaten waren, wie sie als Kleinkind immer mit ihnen ins Ausland durfte und eine ziemlich bunte

Grundschulzeit in insgesamt 3 Schulen verbracht hatte, wie ihre Eltern sie schließlich zum Übertritt an eine weiterführende Schule hierher ins Internat gebracht hatten, damit sie einen guten Schulabschluss machen konnte.

"Und wenn ich groß bin und mein Abi habe, reise ich wieder mit meinen

Eltern mit. Vielleicht werde ich ja selber mal Diplomatin!" Und ich berichtete von dem Beruf meiner Eltern, dass sie dadurch ständig reisen mussten und wollten, dass ich endlich an einer festen Schule war und in Ruhe meinen Abschluss machen konnte. Wir stellten kichernd fest, dass wir ziemlich viel gemeinsam hatten,

und so quatschten wir noch munter weiter, bis die Nachtschwester kam und uns zu Schweigepflicht bis zum Frühstück verdonnerte, was uns aber nicht wirklich aufhielt . . .

Schließlich schliefen wir aber doch noch ein, und waren ganz schön müde, als die Aufstehglocke klingelte.

Beim Frühstück konnten wir kaum die Augen offen halten und waren auch immer noch zu nichts zu gebrauchen, als wir uns auf den Weg zum

Kunstraum machten.

Drinnen wartete Fr. Bal schon ungeduldig auf uns.

Sie schien noch grimmiger als sonst; ihre mausgrauen Haare hatte sie streng nach oben gesteckt, keine Strähne durfte aus der Reihe fallen;

Ihr karierter Minirock und die rote Bluse ließen sie aussehen wie ein Vampir, der auf Beute harrte.

Lautlos schlichen wir auf unsere Plätze, nicht ohne dass ich einmal Theresas Bein ausweichen musste.

"Wenn jetzt auch die letzten endlich angekommen sind,", Frau Bal feuerte giftige Blicke in unsere Richtung ab, "können wir ja anfangen. Holt bitte euren Schal heraus und arbeitet weiter." Plötzlich klingelte etwas bei mir. Schal?

"Außerdem solltest du, Maja, heute einen neuen, fertigen Schal bei mir abliefern. Wie sieht ´s aus?" Frau Bal stemmte die Hände in die Hüften und schaute amüsiert zu , wie ich dasaß und nicht wusste, was ich machen sollte.

So ein Mist aber auch! Über der "Geschichteninsel" und Kiara s Einzug hatte ich das ja ganz vergessen!

Ich merkte, wie ich rot anlief und sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

"Ich warte", zischte Frau Bal und zog gespielt die Augenbrauen hoch.

Inzwischen hatte die ganze Klasse ihre Strickarbeit unterbrochen und starrte gespannt zu mir hinüber.

Hilfesuchend schaute ich zu Kiara, doch die konnte mir natürlich auch keinen Schal herbeizaubern. Ich blickte wieder zu Frau Bal hinauf.

"Äh, ich habe es vergessen", murmelte ich und schloss die Augen. Bestimmt müsste ich bis zum nächsten Mal zwei Schals und einen

Wollpulli stricken, vielleicht auch noch drei Paar Fäustlinge mit dazu.

"Das habe ich mir doch fast gedacht. Etwas anderes kann man ja auch nicht von dir erwarten. Bis zum nächsten Mal lieferst du mir den fertigen Schal! Und außerdem kommst du heute Abend zum Nachsitzen."

Uhhh! Ein paar In der Klasse stöhnten mitleidig.

Nachsitzen bei Frau Bal: Etwas schlimmeres gab es nicht, das hatte selbst ich schon gemerkt.

Plötzlich aber sprang Kiara auf.

"Frau Bal, darf ich etwas sagen?"

Die Handarbeitslehrerin drehte sich abrupt um.

"Du? Nun gut, also schön, was gibt es denn?"

"Maja kann gar nichts dazu, dass sie nicht fertig geworden ist, denn . . ."

Ich starrte Kiara fassungslos an.

Sie wollte mir tatsächlich aus der Patsche helfen, aber ich konnte mir echt nicht denken, was mir überhaupt noch helfen könnte.

"Was ist?" Frau Bal wurde ungeduldig.

"Weil, weil ... Maja und ich machen bei einem Kunstwettbewerb mit und müssen bis morgen mit unserer Arbeit fertig werden! Ja, genau, und deshalb konnte Maja den Schal nicht fertig stricken, wir haben nämlich den ganzen Nachmittag gearbeitet!"

Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Kiara wurde nicht einmal rot beim Lügen! Ohne mit der Wimper zu zucken hatte sie diese Lüge Frau Bal an den Kopf geworfen.

Ich schaute rüber zu Theresa.

Ihr klappte sich vor Staunen der Unterkiefer hinunter.

Und Frau Bal?

Die war total begeistert!

"Kunst? Ein Kunstwettbewerb? Das ist ja ganz hervorragend! Wirklich, das hätte ich niemals von dir gedacht, Maja, warum sagst du aber auch nichts? Kunst ... Wusstet ihr, dass ich einmal Kunstlehrerin werden wollte?

Wenn da nicht diese Sache gewesen wäre, hätte das ja auch geklappt . . .

Jedenfalls musst du unter diesen Umständen nicht nachsitzen, Maja, und den Schal musst du auch nicht noch mal neu machen. Und wenn ich euch irgendwie behilflich sein kann bei eurer Arbeit, fragt mich nur!"

"Danke, Frau Bal", war das einzige, was ich in diesem Moment sagen konnte. So hatte ich Fräulein Griesgram ja noch nie erlebt!

Diese stolzierte mit einem glücklichen Lächeln nach vorne zum Pult, setzte sich und starrte verträumt aus dem Fenster.

Ich schaute zu Kiara hinüber.

Wir grinsten uns gegenseitig zu.

So, genau so habe ich mir schon immer eine richtige Freundin vorgestellt!

Die Tage vergingen, und Kiara und ich wurden richtige Freunde.

Inzwischen war es Frühling geworden, die Sommerferien und das endliche Wiedersehen mit den Eltern rückten immer näher und die Lehrer vergaßen auch schon mal über dem tollen Wetter und der guten Laune, dass es so etwas wie "Probearbeiten" oder "Leistungstests" überhaupt gab. Nur eine vergaß nie, was ihre Lieblingsbeschäftigung war: Theresa. Sie machte nie eine Pause; ständig nutzte sie jeden Augenblick, um Kiara und mich zu ärgern uns das Leben schwer zu machen.

Es war wie eine Plage, aber Kiara und ich ließen uns davon natürlich nicht die Frühlingslaune vermiesen.

Eines Tages nach dem Frühstück, als alle fertig gegessen hatten und auf die tägliche Morgenansprache von einem der Lehrer warteten, trat der Direktor vor die Schülerinnen, was ziemlich ungewöhnlich war.

Normalerweise hielt Fräulein Sendelbach die Ansprache, den Direktor bekamen sie eigentlich so gut wie nie zu Gesicht.

Er war ein junger, stattlicher Mann mit Dreitagebart, Jeans und T - shirt, gegelten Haaren und zwei Ohrringen im rechten Ohrläppchen, kurzum:

Alles, aber nicht das, was man sich unter einem durchschnittlichen Internatsdirektor vorgestellt hätte.

Aber die Schülerinnen mochten ihn.

Mucksmäuschenstill wurde es im Saal, und jeder starrte den Direktor an.

"Also, Mädels, heute werde ich mal die Ansprache halten." Er zwinkerte einigen Schülerinnen am vordersten Tisch zu, worauf diese

Sofort rot anliefen und das Kichern anfingen.

"Ich habe euch nämlich besonders gute Nachrichten mitzuteilen.

Ab heute Nachmittag wird unser neuer, schuleigener Computerraum eröffnet."

Ein Raunen ging durch die Menge, ein paar Schülerinnen riefen laut "Na endlich!" und alle freuten sich über diese tolle Neuigkeit.

Eine der älteren beugte sich zu mir rüber:

"Schon seit langem wünschen wir uns einen Computerraum, aber immer haben sie uns damit vertröstet, dass wir einen bekommen würden, wenn die Schule mehr Geld hat. Jetzt endlich ist es soweit!" Ich nickte und das Mädchen wandte sich wieder ihren Freundinnen zu, mit denen sie eifrig Pläne für eine eigene Homepage schmiedete.

Währenddessen ergriff der Direktor noch einmal das Wort: "Aus diesem Grund entfällt heute Nachmittag der Unterricht, und jede Klasse darf für eine Stunde an die PCs; die Oberstufe kommt morgen dran. Ansonsten gilt ab sofort folgende Regelung:

Vormittags und Nachmittags steht der Raum jedem zur Verfügung,

am Abend nur mit Erlaubnis der Lehrer und auch nur bis 22 Uhr.

Alles klar? Dann wünsche ich euch viel Spaß!" Und damit nickte er in die Runde, drehte sich um und verschwand in seinem Büro.

Kaum war er gegangen, brach ein riesiger Tumult im Saal los: Alle redeten durcheinander und wollten wissen, was die anderen von der Sache hielten.

"Mensch Maja, das ist total klasse!", meinte Kiara, "Zuhause musste ich mir immer den Computer mit meinem Bruder teilen, und seit ich hier im Internat bin, konnte ich kein einziges Mal mehr meiner E -mail-Freundin schreiben. Jetzt kann ich das endlich nachholen!"

Ich nickte.

"Was ich alles zu erzählen habe ... Meinst du, sie wird es interessieren, was ich hier im Internat erlebt habe? Ich glaube aber schon, auf jeden Fall freue ich mich total darauf, wieder etwas von ihr zu hören."

Ich nickte. (langsam kam ich mir so vor wie eine von diesen Wackeldackeln (und diesmal meine ich nicht Sheida und Berna, sondern die richtigen, die meistens hinten im Auto stehen und bei Stau dem Hintermann so richtig auf die Nerven gehen))

Schließlich machten wir uns auf den Weg ins Klassenzimmer.

Mathe. Bäh!

Ich hatte überhaupt keine Lust auf Rechnen.

Probleme oder Schwierigkeiten hatte ich nicht besonders mit den Sachen, die wir gerade durchnahmen, aber trotzdem:

Gibt es denn etwas noch stinklangweiligeres als Mathe?

Na ja, obwohl, Kunst ... Handarbeiten ... *grins*

Ich beschloss, heute einen faulen Tag einzulegen und mich so wenig wie möglich anzustrengen oder über unsere Mathelehrerin Fr. Friedrich aufzuregen. Heute nicht ... Zur Feier des Tages ...

Aber noch bevor wir am Klassenzimmer ankamen, war es auch schon Schluss mit dem guten Vorsatz, sich heute nicht aufregen zu lassen:

Theresa.

Sie stand zusammen mit Sheida und Berna vor dem Getränkeautomaten und fluchte laut.

"Was ist denn das für eine scheiß Teil? Verdammter Mist!"

Und damit trat sie so heftig an den Automaten, dass das Metall schepperte und eine tiefe Delle entstand.

Kiara schaute mich an und verdrehte die Augen.

Wir mussten uns ein Lachen verkeifen, und drehten uns schnell um, damit Theresa unser Gesicht nicht sehen konnte.

Sie hätte uns in ihrem Zorn bestimmt erschlagen ...

"Hat jemand noch Kleingeld dabei?", schrie sie währenddessen und Kiara und ich drehten uns wieder um.

Sheida und Berna zogen nur entschuldigend die Schultern hoch, und sonst befand sich keiner mehr auf dem Gang, außer, natürlich: uns.

"Leiht mir mal was!", herrschte Theresa uns an.

"Vielleicht musst du den Automaten nur mal lieb bitten?", schlug Kiara todernst vor und machte eine tiefe Verbeugung vor dem alten Blechteil, zückte ihren nicht vorhandenen Hut und warf ihm eine Kusshand zu.

Und sofort prusteten wir los.

Doch das hätten wir besser nicht getan, denn das machte Theresa nur noch wütender.

"Wenn ihr dumme Witze machen wollt, bewerbt euch als Kindergeburtstags-Clown! Leiht ihr mir jetzt was, oder wie sieht´ s aus!"

"Hey, das wäre doch die Idee, Maja! Ein Clown-Duett!"

"Find ich auch! Vielleicht willst du ja auch mitmachen, Theresa, dann könnten wir uns "das Lustige Trio" nennen!"

Wir mussten so dermaßen kichern, dass wir uns nicht mehr halten konnten. Ich klammerte mich wimmernd an Kiara fest, während die sich an der Wand halten musste um nicht umzukippen.

Theresa stattdessen kochte über vor Wut.

Hätten wir einen Augenblick mit dem Lachen aufgehört und zu ihr hinüber geschaut, hätten wir den Zorn richtig hinter ihren Augen hoch züngeln sehen. Wütend ballte sie die Fäuste und ging zum Angriff über, Sheida und Berna hintendrein, die genauso sauer auf uns waren. Schließlich hatten wir ihr Idol beleidigt.

Theresa riss mich an den Haaren hoch und presste mich gegen die Wand, und Kiara erging es nicht besser, sie wurde von den beiden Wackeldackeln geschnappt und an den Automaten gedrückt.

Uns verging schlagartig das Lachen.

"Sag mal, du verstehst ja gar keinen Spaß!"

"Das macht ihr nicht noch mal!", zischte Theresa und krallte ihre spitzen, blau bemalten Fingernägel noch fester in meine Arme. Ich bereute, morgens nur ein T -shirt angezogen zu haben.

"Es macht sich keiner über mich lustig, habt ihr das verstanden?"

"Ja, ja, klar ... obwohl, das mit dem Trio ..."

"VERSTANDEN?"

Wir nickten. (Wackeldackel-Doppelpack)

Theresa ließ mich ruckartig los, und Kiara wurde auch freigelassen.

Ein, zwei Sekunden später, und Theresa war mitsamt ihren Kumpanen verschwunden.

Kiara und ich mussten erst einmal schlucken.

Wir waren eindeutig zu weit gegangen, doch dass Theresa so aggressiv reagieren würde ... wer hätte das wissen können?

Wir sahen uns an.

Wenn wir nicht aufpassten, würden wir bald mächtigen Ärger mit ihr bekommen, und da wir jetzt gesehen hatten, dass Theresa auch nicht davor zurückschreckte, über Worte hinauszugehen, machte das die Sache nicht einfacher.

Plötzlich klingelte die Schulglocke - 2 mal!

Das bedeutete, jetzt müssten alle Schülerinnen spätestens in ihren Klassen sein, sonst hagelte es Vermerke im Klassenbuch.

Und wir rannten, so schnell es irgendwie ging.

Wir hätten genauso gut nach jedem Schritt eine Minute Pause machen können, Frau Friedrich war so oder so gnadenlos. Ob ein paar Sekunden zu spät oder eine halbe Stunde: Das machte für sie keinen Unterschied. Wir konnten uns noch so viel Mühe geben mit originellen Ausreden (Kiara: "Wir haben uns auf dem Weg vom Klo hierher verlaufen!" nur schade, dass die Toiletten direkt gegenüber lagen, und Ich: "Wir brüteten gerade über einem schweren mathematischen Problem, und Sie wissen ja, wie das ist wenn man unbedingt den dringenden Drang hat, es jetzt sofort zu lösen, oder? Fr. Friedrich bedachte uns nur mit einem skeptischen Blick und schrieb dann kopfschüttelnd zwei Vermerke ins Klassenbuch. Einen Versuch war es zumindest wert!)

Niedergeschlagen setzten wir uns auf unsere Plätze und versuchten, die

Schadenfrohen Blicke von Theresa, Sheida und Berna zu ignorieren.

Und wie schleppend sich die Mathestunde dahinzog! Es war grausam. Am Ende glühte uns so der Kopf von lauter Formeln, dass wir froh waren, am Nachmittag nicht noch mehr solcher Qualen erleiden zu müssen, denn es war ja frei, aufgrund der Computerraum -

Eröffnung. Ich selber hielt zwar nicht so viel von PCs, aber trotzdem freute ich mich auf die Abwechslung. Fröhlich machten wir uns also schon in der Pause auf, um eine der ersten zu sein.

Doch vergeblich: Der gesamte Jahrgang wartete schon darauf, reingelassen zu werden, und Fräulein Sendelbach konnte sie nur schwerlich zurückhalten.

Am Ende bekamen wir aber doch noch jeder einen eigenen Computer, ich neben Alexandra und Esther, Kiara (die Arme!) musste sich neben Sheida und Berna setzen. Sie konnte das aber nicht davon abhalten, sich, sobald der Rechner hochgefahren war, sofort ins Internet zu stürzen und ihre Mailbox abzurufen.

Neben mir machte Alexandra dasselbe, während Esther im Word - Programm einen Brief schrieb.

Und ich? Ich wusste so rein gar nicht, was ich tun sollte.

Zuhause hatte ich auch einen eigenen Computer gehabt, jedoch war ich ständig zu faul gewesen, mir eine E -Mail-Adresse einzurichten, und auch sonst war ich viel zu bequem und ungeduldig, zu warten, während der Rechner hochfuhr (was bei meinem alten Knochen schon mal länger dauern konnte).

So saß ich also minutenlang tatenlos herum und schaute Annabelle mir schräg gegenüber dabei zu, wie sie Pingpong spielte.

"Hey, bei dir läuft ja der Bildschirmschoner! Machst du denn gar nichts?" Das war Alexandra.

Ich zuckte zusammen und drehte mich zu ihr um.

Wie als käme ich aus einer anderen Welt starrte sie mich an.

"Also, nee, eigentlich nicht. Keine Ahnung was ich machen soll.", gab ich schulterzuckend zur Antwort und grinste dumm. "Keine Ahnung, was du machen sollst??????", kreischte Alexandra daraufhin, worauf der ganze Raum sich zu uns umdrehte und die Finger an die Lippen legte.

"Keine Ahnung, was du machen sollst?", fragte sie deshalb noch einmal leiser und schüttelte verständnislos den Kopf.

"Aber es gibt doch so viele Möglichkeiten! Spiel irgendein Spiel, lad dir Songtexte runter, chatte ein bisschen, hol dir ..."

"Chatten?" "Chatten, da kannst du mit anderen Leuten reden und so" "Ich weis, was das ist! Kannst du mir zeigen, wie?" Von chatten hatte ich schon einmal gehört und viele sagten, es wäre echt toll. Ich wollte das unbedingt mal ausprobieren. Alexandra seufzte. "Meinetwegen" Flink klickte sie sich ins Internet und gab in der Adressleiste eine Adresse ein. Ich merkte mir alles. Dann deutete sie auf den Bildschirm. "Hier meldest du dich an.", schnell gab sie mir einen Spitznamen ein, ein Passwort dazu, schrieb mir beides auf einen Zettel und fuhr dann fort: "Und hier kannst du wählen, in welchem Chatroom du chatten willst. Nehmen wir mal ... hm ... Flirt." Sie klickte auf den Button und sofort erschien ein rosa Fenster, ein weißes Quadrat, in dem ständig Sätze auftauchten und noch einige Buttons und ein Schreibfeld darunter.

"Hier", Sie zeigte auf das Schreibfeld "Gibst du deinen Text ein. Der erscheint dann mit den Texten der anderen auf dieser Fläche da, mit deinem Namen, den ich angegeben habe, und so kannst du dich mit anderen unterhalten. Alles klar?"

Ich nickte. "OK" Alexandra wollte sich gerade hinsetzen, als Theresa vom anderen Ende des Raumes nach ihr rief. Diesmal stöhnte sie nicht auf, sondern rannte gleich hin und half ihr. Doch mich interessierte das alles nicht mehr. Ich starrte auf den Bildschirm und verfolgte die Unterhaltung zweier Mitchatter:

Super-boy: du hast keine Ahnung

Prettywoman: hab ich wohl, und ich weis genau, dass du Hilton bist. Du lügst uns alle hier an!

Super-boy: Du bist die einzige die lügt. Hilton, was ist das?

adidas: Hallo, my-petite-princesse!

My-petite-princesse? Wer ist denn das bitte schön?

adidas: Hallo? Noch da?

Ach so, das war ja ich. Was sollte ich jetzt machen? Da sah ich wieder das seltsame Schreibfeld, und gab ein:

my-petite-princesse: Ja, noch da. Was los?

Adidas: Wie alt bist du?

my-petite-princesse: 13. Und du?

Adidas: Auch 13. Und wo wohnst du?

Ich zögerte kurz, Chiemgau einzugeben. Wie oft hatten sie schon im Fernsehen von jungen Mädchen und manchmal auch Jungen berichtet, die zu viel verraten hatten und sich sogar mit dem Chatfreund trafen, um dann von dem hinters Licht geführt zu werden?

Ich wollte dieses Risiko auf keinen Fall eingehen und beschloss, einen falschen Wohnort zu nennen.

Wie hieß noch mal das kleine Städtchen an der Ostsee, wo wir letztes Jahr den Urlaub verbracht hatten? Lübeck, genau.

my-petite-princesse : In Lübeck.

Adidas: Wo liegt denn das?

my-petite-princesse : An der Ostsee. Ganz schön.

Adidas: Ich lebe in der Nähe von Kiel.

My-petite-princesse: Aha. Und, hast du Geschwister?

Diesmal dauerte es etwas länger, bis Adidas antwortete.

Adidas: Ja. Du?

My-petite-princesse: Nein. Bist du eigentlich ein Mädchen oder ein Junge?

Adidas: Mädchen. Du auch, oder?

My-petite-princesse: Ja.

Adidas: wollen wir uns mal zum Chatten verabreden? Ich muss nämlich

Gleich los.

My-petite-princesse: Ja, gerne. Ich hab es auch eilig. Wann hast du Zeit?

Adidas: Morgen, um 15 Uhr?

Ich überschlug schnell, wie lange ich für die Hausaufgaben brauchen würde und überlegte kurz, ob ich Nachmittagsunterricht hatte, und willigte schließlich ein. Diese Adidas kam mir sehr sympathisch vor, und außerdem machte Chatten großen Spaß.

Wir verabredeten uns also für morgen, ich sagte schnell Tschüs, da es gleich klingeln würde, und machte mich zusammen mit Kiara, die ununterbrochen von ihrer E -Mail-Freundin erzählte, auf den Weg zu unserem Zimmer.

Ich wollte Kiara unbedingt von Adidas erzählen, aber ich kam überhaut nicht dazu; denn kaum waren wir im Zimmer angekommen, klopfte es an der Türe und Alexandra, Esther und Annabelle stürzten herein, mit zwei Tüten Chips, Gummibärchen und Cola und schwupp-di-wupp hatten sich die drei auch schon auf mein Bett geworfen und grinsend erklärt, dass heute Abend in unserem Zimmer eine Party stattfinden würde. Klasse.

Sehnsüchtig schaute ich zu dem Buch auf meinem Nachtisch hinüber, und eigentlich wollte ich auch noch Bio lernen ... Na ja. Ich wollte ja schließlich nicht, dass die anderen mich für eine Langweilerin hielten.

Am nächsten Morgen wachte ich schon ziemlich früh auf.

Kiara pennte noch neben mir, aber in wenigen Minuten müsste der Wecker klingeln. Ich streckte mich.

Gestern war es noch ein langer Abend gewesen! Bis kurz vor 23 Uhr belagerten Alexandra, Esther und Annabelle unser Zimmer, so dass ich nie dazukam, Kiara von Adidas zu erzählen.

Ich freute mich schon riesig auf den Nachmittag, wenn ich wieder in den Computerraum gehen konnte und mit ihr chatten würde.

"Maja? Bist du wach?", murmelte auf einmal Kiara und im selben Moment klingelte der Wecker. "Ja, bin ich" "Ach so. Stell dir vor, was ich geträumt habe: Ich habe meine E -Mail-Freundin in München getroffen, und du warst auch dabei!" Und schon erzählte sie mir eine weitere Story von ihrer tollen Freundin, über die ich schon so ziemlich alles wusste. Ich verdrehte die Augen, aber so, dass sie es nicht sehen konnte. Langsam nervte mich dieses doofe Getue um ihre E-mail-Freundin.

"Ich geh in den Computerraum. Bis dann!"

Ich versuchte so unauffällig und schnell wie möglich zu verschwinden, denn ehrlich gesagt wollte ich nicht so recht, dass Kiara mitkam.

Natürlich, sie war meine beste Freundin und so, aber ich wollte diese eine Sache nur für mich haben, wenn sie mir sowieso schon nicht zuhören wollte.

"Computerraum? Ich dachte, du hältst nichts von PCs?"

"Na ja, man ändert sich eben ..."

"Dann komme ich mit."

So ein Mist!

"Wolltest du nicht noch Hausaufgaben machen?"

Sie schaute mich verdutzt an.

"Seit wann interessierst du dich denn für meine Hausaufgaben?"

Ich murmelte etwas von ´nur so` und lief dann neben ihr her.

Warum sagte ich ihr nicht einfach ins Gesicht, dass ich mal allein sein wollte? Jennifer Lopez oder * g* Desirée Nick hätten das sofort gemacht.

Andererseits hatte ich auch Angst, sie würde beleidigt reagieren.

Na ja, wer sich nichts traut, muss eben mit den Konsequenzen leben, dachte ich bitter und hoffte, sie würde wieder mit ihrer E -Mail-Freundin zu tun haben und nicht sehen wollen, was ich machte.

Als wir im Computerraum ankamen, herrschte dort rege Betriebsamkeit:

Alexandra und Esther hockten ganz hinten, starrten kichernd auf den Bildschirm und riefen ständig etwas zu Annabelle hinüber, die in der ersten Reihe saß; Berna und Sheida schrieben eifrig etwas aus einem Internet-Artikel von WWF heraus und ganz hinten entdeckte ich auch Theresa, die dauernd auf die Uhr schaute und mit ihren Adidas-Turnschuhen ungeduldig gegen das Stuhlbein kickte.

Wir suchten uns zwei Plätze so weit wie möglich weg von ihr und zum meinem Glück klickte sich Kiara gleich in ihre Mailbox und kicherte bald vor sich hin.

Ich ging die Sache etwas unsicherer an.

Zwar hatte ich gesehen, wie Alexandra das gestern gemacht hatte, aber wenn man das selber dann ausprobiert und auch noch zum ersten Mal, ist es etwas ganz anderes.

Schließlich fand ich mich doch noch auf der richtigen Seite ein und gab mein Passwort an, worauf ich schnell auch Adidas antraf, die schon auf mich gewartet hatte.

Adidas: Hallo! Sag mal, ich weis ja gar nicht deinen Namen, wie heißt du

Denn richtig?

My-petite-princesse: (ich beschloss, den richtigen anzugeben) Maja. Du?

Adidas: Terri. Ich kenne übrigens eine, die heißt so wie du.

My-petite-princesse: Aha.

Adidas: Wie geht es dir so?

Und so ging das noch eine ganze Weile weiter.

Adidas schien auf den zweiten Blick sogar noch netter als gestern, und wir unterhielten uns über so ziemlich alles, was man wissen musste, um den anderen richtig einzuschätzen:

Sie war ziemlich lustig, brachte mich oft zum Lachen und erzählte, sie habe eine große Familie mit einem Hund, zwei Wellensittichen und einem Teich in einem großen Garten mit Haus in der Nähe von Kiel und einen großen Freundeskreis.

Ich wusste, dass das alles auch nur gelogen sein konnte, doch ich konnte das nicht so recht glauben: Sie kam so ehrlich, so - einfach nur nett rüber, ich konnte mir nicht vorstellen, sie würde mir das alles nur vorlügen.

Ich dagegen veränderte schon so einiges, damit ich besser dastand:

Ich änderte die Namen meiner Freunde und Eltern und den Beruf meiner Eltern ein wenig ab (aus Kiara wurde Klara), erfand mir eine Katze und ließ bei allem ganz weg, dass ich auf einem Internat lebte.

Das hörte sich meiner Meinung nach ziemlich erfunden an

(He, hallo, ich gehe auf ein Internat! < Heißt du zufällig Hanni oder Nanni?)

Am Ende einer zweistündigen Unterhaltung verabredeten wir uns schließlich für den nächsten Tag um dieselbe Uhrzeit.

Ich fuhr den Rechner hinunter und rieb mir die schmerzenden Augen.

Alle anderen waren schon gegangen, nur Theresa war noch da und war ebenfalls gerade dabei, den Raum zu verlassen.

Ich stutzte.

Was war denn jetzt los?

Anstelle ihrem sonst so mürrischen Gesichtsausdruck stahl sich nun ein kleines, schwaches Lächeln über ihre Lippen.

Ich musste grinsen. So gesehen sah Theresa gar nicht so angsteinflößend und herrisch aus, ja, sogar ein klein wenig nett.

Theresa nahm ihre Tasche und schob den Stuhl unter den Tisch, dann sah sie auf und ihr Lächeln erstarb im selben Moment, als mir das Grinsen verging.

Oh - oh, das letzte, was ich in diesem Moment wollte, waren Theresas

Demütigende Sprüche, also beeilte ich mich, durch die Tür auf den Flur zu kommen, wo viele Schüler und auch Lehrer vorbeigingen, so dass Theresa

Mich diesmal nicht zu fassen bekam.

Vor einem Lehrer würde sie sich das sicher nie trauen,

da tat sie immer als die Musterschülerin, die, immer nett und zuvorkommend,

alle in der Klasse mochte und jedem half.

Ich musste fast würgen, wenn ich daran dachte, wie heuchlerisch sie immer in Gegenwart eines Lehrers die brave Schülerin spielte, und ich empfand tiefe Abscheu ihr gegenüber.

Ich wusste nicht, dass mein Weltbild in wenigen Tagen so derartig ins Wanken geraten würde, dass ich nicht mehr wissen würde, wer eigentlich mein Freund und mein Feind war.

Am nächsten Tag war ich schon viel früher als Kiara aufgestanden, um

Ihr aus dem Weg zu gehen.

Beim Frühstück setzte ich mich zu Juliana, einem eigentlich ganz netten Mädchen aus der Parallelklasse, und ignorierte Kiaras irritierte Blicke.

In den darauffolgenden Schulstunden konnte ich es immer so einrichten, dass ich den Lehrern beim Tragen helfen musste oder noch etwas anderes zu erledigen hatte, damit ich erst ins Klassenzimmer kam, wenn der Unterricht schon angefangen hatte und Kiara nichts mehr zu mir sagen konnte.

Und beim Mittagessen beeilte ich mich so sehr, dass ich schon längst weg war, als sie mit Alexandra, Esther und Annabelle von der Toilette kam.

Die Zeit bis zu meinem Treffen mit Adidas verbrachte ich im Schulgarten und auch die Hausaufgaben erledigte ich dort.

Zwar war das Wetter immer noch sehr schön, wenn auch der Himmel wolkenverhangen und es ein wenig kälter als am Vortag war.

Doch trotzdem war ich ganz schön durchgefroren, als ich endlich in den Computerraum eilte.

Die Türe war verschlossen, als ich ankam. Ich blieb unschlüssig stehen und überlegte, was jetzt zu tun sei.

Sollte ich Theresa wirklich einfach offen darauf ansprechen? Oder sollte ich erst abwarten, was heute passieren würde?

Ich hatte keine Ahnung.

Leise drückte ich die Türklinke herunter und öffnete sie einen Spalt breit. Theresa war schon da. Sie saß in der hintersten Reihe und begutachtete ihre pink lackierten Fingernägel. Ab und zu warf sie einen ungeduldigen Blick auf den Bildschirm und ihre Armbanduhr.

Ich gab mir einen Ruck und trat ein.

Meine Tasche stellte ich auf einen der vorderen Tische und schaltete den Computer an. Während er hochfuhr, beobachtete ich Theresa unauffällig aus den Augenwinkeln, schaute aber immer wieder schau weg, wenn sie einen ihrer verachtenden Blicke in meine Richtung abfeuerte.

Ich konnte sie einfach nicht offen ins Gesicht fragen! Dafür war ich viel zu feige. Was, wenn sie mich auslachte? Oder, noch schlimmer, wütend wurde und mir nicht glauben würde? Vielleicht würde sie mit vorwerfen, ihr nachzuspionieren, und mich bei der Schulleitung anschwärzen.

Das konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen.

Aber ich wusste, dass ich mich nicht wohl fühlen würde, wenn ich das nicht klären könnte. Niemals würde ich so noch munter weiter mit Adidas chatten, wenn ich wüsste, dass sich hinter dem Spitznamen meine ärgste Feindin verbarg.

Nein, diesmal, nur dieses eine Mal musste ich über meinen Schatten springen und mich trauen, Theresa zu fragen. Und zwar sofort.

Ich schluckte schwer und drehte mich langsam zu Theresa um, die gerade gelangweilt aus dem Fenster schaute und mich nicht beachtete.

Inzwischen war mein Rechner hochgefahren, doch ich machte nicht im Geringsten die Anstalten, den Chatroom aufzusuchen.

Stattdessen wischte ich mir die schweißnassen Hände an meiner Jeans ab, atmete einmal tief durch und stand auf.

Mit festem Schritt ging ich auf Theresa zu und blieb mit auf einmal wackligen Knien vor ihr stehen. Ich wollte sie gleich mit meiner Frage konfrontieren, doch als ich da so vor ihr stand, brachte ich nur ein heiseres Krächzen heraus.

"Hast du ein Problem?", fuhr Theresa mich gereizt an.

"Ich, ich ..."

"Ich, ich, ich", äffte sie mich nach, "Kannst du nicht gescheit reden?"

Ich riss mich zusammen.

"Ich habe eine Frage", sagte ich.

"So, so, eine Frage. Ich will sie aber gar nicht hören!", erwiderte sie. "Hau endlich ab, ich hab was besseres zu tun"

Doch ich ließ mich nicht so leicht abwimmeln und fuhr einfach fort.

"Ich bin deine Chatfreundin Maja" Ich hatte die Katze aus dem Sack gelassen. Ich atmete auf und wartete angespannt auf Theresas Reaktion.

Im ersten Moment schien sie wirklich überrascht, doch dann fing sie sich wieder und lachte auf.

"Na klar, und ich bin der Nikolaus! Verschwinde, Dummkopf, und lass mich in Ruhe. Wahrscheinlich hast du das nur aufgeschnappt, als ich Maja mal erwähnt habe"

"Nein, ich bin es wirklich", beharrte ich weiter, "ich bin my-petite-princesse. Und du bist Adidas. Ich kann dir sogar sagen, über was wir alles miteinander geredet haben, wenn du mir nicht glaubst."

Theresa schien verunsichert. Das nutzte ich aus und erzählte ihr, was ich alles über Adidas wusste: Das mit der großen Familie, die sie angeblich hatte, das mit dem großen Haus mit Garten und Teich, und dass sie in Kiel wohnte. Dann erzählte ich noch, wie ich sie entlarvt hatte.

Als ich geendet hatte, trat ein drückendes Schweigen ein.

Theresa atmete schwer und hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen.

"Warum hast du erzählt, dass du eine große Familie hättest?", fragte ich leise.

Sie schwieg. Mit Schrecken sah ich, dass eine Träne auf den Tisch tropfte.

Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich vorsichtig.

Ich wusste in diesem Moment gar nichts mehr! Alles, was ich bisher über Theresa gedacht hatte, wurde in diesem Augenblick aus den Angeln gehoben.

Theresa, meine ärgste Feindin, die mich die ganzen Wochen, in denen ich jetzt schon hier auf dem Internat war, immer nur gepiesackt, geärgert und gedemütigt hatte, saß da vor mir wie ein Häufchen Elend und weinte!

Ich fühlte mich hilflos und hatte keine Ahnung, was zu tun war; wie ich reagieren sollte!

Schließlich legte ich meine Hand tröstend auf ihren Arm. Meine ganze Wut war vergessen bei diesem Anblick.

"Ich wollte nicht, dass ..."

Theresa hob ihren Kopf und sah mich wütend an.

"Sei still! Du kannst ja nicht wissen, wie es ist, wenn man keine Eltern mehr hat; nur einen Onkel, der am anderen Ende der Welt lebt und sich nur dann an mich erinnert, wenn er meine Internatskosten und meinen Unterhalt bezahlen muss! Du hast keinen blassen Schimmer, wie sich das anfühlt, keine Familie zu haben, keine Verwandte, die sich liebevoll um einen sorgen. Ich wollte einfach nur eine Freundin finden beim Chat, die auch wirklich meine Freundin ist. Sonst habe ich ja keine richtigen Freunde. "Aber Sheida und Berna ..."

"Das sind keine richtigen Freunde. Die laufen mir nur hinterher, weil ich den Ton angebe in der Klasse. Sonst nichts. Wenn irgendwas ist, sind sie dann auf einmal nicht mehr da."

"Aber warum bist du dann immer so gemein zu den anderen, wenn du doch eigentlich Freunde finden willst! So haben alle nur Angst vor dir und hassen dich."

Theresa seufzte.

"Ich würde ja so gerne nett sein. Am Anfang war ich das ja auch. Aber mit Nettsein kommt man nicht weit, wenn man keine Eltern mehr hat, das habe ich gelernt. Man wird nur ausgelacht und verspottet. Ich weis noch, wie traurig ich war, als ich in den Weihnachtsferien hier bleiben musste und ich deshalb nur Spott zu hören bekommen habe. Und als nach den Ferien alle mit tollen Geschenken zurückkamen, hatte ich nichts, was ich ihnen als meine Geschenke hätte zeigen können. Ab da an habe ich beschlossen, andere Saiten aufzuziehen. Ich lasse mich nicht mehr so leicht unterkriegen."

"Aber das ist genau der falsche Weg! Wenn du dich so verhältst, wie du es bisher gemacht hast, wirst du nie Freunde finden. Richtige Freunde kannst du auch nicht durch Chatfreunde ersetzen."

Theresa schaute mich an.

"Ich kann dir helfen, wenn du willst. Du wirst sehen, wenn du erst mal deine beiden Wackel-Dackel in die Wüste geschickt und die anderen davon überzeugt hast, dass du in Wirklichkeit total nett bist und nicht so zickig und rebellisch wie du dich sonst gegeben hast, sieht das Ganze schon sehr viel besser aus."

Theresa schaute immer noch ein bisschen skeptisch und unsicher, aber ich war zu 100% überzeugt von meinem Plan.

"Das wird schon, glaub mir!", sagte ich und lächelte Theresa an. Zaghaft lächelte sie zurück.

Kaum zu glauben - vor ein paar Tagen hätte ich noch gesagt "Nur über meine Leiche!", aber es war Wirklichkeit: Theresa war nicht mehr meine Feindin, sondern meine neue Freundin.

Am nächsten Tag wachte ich erst auf, nachdem mein Wecker schon das dritte Mal geklingelt hatte.

Verschlafen blickte ich mich um. Kiara war anscheinend früher aufgestanden und schon zum Frühstück gegangen.

Ich stand auf und zog mich an. Als mein Blick auf einen Ausdruck eines Chat- Gesprächs mit Adidas fiel, erinnerte ich mich wieder an mein gestriges Erlebnis.

Lächelnd stand ich vor dem Spiegel. Heute würde sich so einiges ändern!

Theresa wartete schon im Gang auf mich.

Sie wirkte sichtlich nervös, und war erleichtert, als sie merkte, dass ich meine Meinung über Nacht keineswegs geändert hatte und immer noch auf ihrer Seite stand.

Zusammen gingen wir runter Richtung Speisesaal.

Als wir am Fuß der Haupttreppe angekommen waren, sahen wir von weitem Sheida und Berna in der Halle stehen.

Ich schaute Theresa an. "Bist du bereit?" Sie nickte, holte einmal tief Luft und wir gingen zielsicher auf die beiden zu.

Sheida schaute ziemlich verwirrt, als sie mich mit Theresa Seite an Seite auf sie zukommen sah. Sie stieß Berna mit dem Ellbogen an und zeigte in unsere Richtung.

"Was ist denn los, ey, Theresa? Was willste denn mit der Tussi?"

"Das ist keine Tussi, sondern meine Freundin", erwiderte Theresa mit fester Stimme. "Im Gegensatz zu euch"

Den beiden war die Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben.

"Ey Mann, auf welchem Trip bist du denn? Biste blau oder was?"

"Nein, ich meine das ernst, kapiert? Von euch will ich in Zukunft nichts mehr wissen. Und das meine ich auch so! Lasst mich von jetzt an in Ruhe."

Und damit gingen wir an Sheida und Berna vorbei und durch die Flügeltüren in den Speisesaal.

Ich hielt die Luft an, als wir, Seite an Seite, durch die Reihen gingen. Es war fast lautlos, alle waren in der Bewegung erstarrt, und starrten uns an.

Ich merkte, wie sich Theresas Atem neben mir beschleunigte, aber sie blieb trotzdem ruhig und cool.

Ganz hinten setzten wir uns an einem freien Tisch und fingen seelenruhig an zu essen. Verstohlen schaute ich nach rechts und links, und sah Kiara wie sie fassungslos bei ihren neuen Freundinnen saß und zu uns rübersah.

Zu meiner Überraschung verspürte ich keine Trauer darüber, dass unsere Freundschaft auseinander gegangen war. Wenn sich in einer Freundschaft der eine verändert, weiterentwickelt und plötzlich andere Interessen als vorher hat, der andere diese Veränderung aber nicht mitgehen will, ist es manchmal besser, wenn man getrennte Wege geht und sich frei macht für neue Freunde. Und die hatte ich gefunden.

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