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Leben im Takt

Der Dresdner Kreuzchor ist einer der bekanntesten Knabenchöre der Welt. Mehr als 100 Auftritte haben die Jungen jedes Jahr, viele in der Weihnachtszeit. GEOlino-Reporter haben ihnen zugehört, bei Proben, Konzerten - und in ihren Internatszimmern

Inhaltsverzeichnis

Zwei Seiten eines Chorknaben

Auftritt des Kreuzchors in der Dresdner Kreuzkirche
Auftritt des Kreuzchors in der Dresdner Kreuzkirche
© Veit Hengst

Eigentlich gibt es Jakob zweimal. Auch Hans ist - wenn man so möchte - gleich doppelt vorhanden. Dem einen Jakob und dem einen Hans begegnet man bei den Weihnachtskonzerten des Kreuzchores.

Dann stehen sie da, im Altarraum der Dresdner Kreuzkirche: Jakob, der neunjährige Neuling, ganz rechts in der ersten Reihe; Hans, 18 Jahre, hat seinen Platz in der letzten Reihe, Mitte. Man muss das wissen, um die beiden in der Masse der Sänger zu entdecken. Denn alle haben sie ihre Haare glatt gebürstet, ihre Köpfe starr nach vorn gerichtet, die Rücken durchgedrückt, als wären die dunkelblauen Konzertanzüge starre Rüstungen.

Jakob und Hans sind in diesen Momenten die braven Sängerknaben, die jeder Anweisung ihres Chorleiters folgen, selbst wenn der bloß einen Finger hebt. Anderthalb Stunden später aber, in den Nebenräumen der Kirche, trifft man plötzlich diese anderen Jungen. Lässig und mit verstrubbeltem Haar steht Jakob da.

Ja, das Konzert sei gut gewesen, habe Spaß gemacht. "Aber jetzt will ich schnell zurück und Tischtennis spielen."

Hans, in Turnschuhen und Schlabberjeans, ist ebenfalls schon auf dem Sprung. Für den freien Abend hat er sich zum Fußball verabredet. Denn Zeit, um dieser andere, im wahrsten Wortsinn "eigenwillige" Hans zu sein, blieb in den vergangenen Wochen wenig.

Rückblick. Es ist Dezember, "Großkampfzeit", wie alle 143 Sänger des Kreuzchores, "Kruzianer" genannt, sagen. In keinem anderen Monat hat der Knabenchor, der einer der ältesten und weltbesten ist, so viele Auftritte. Vor zwei Tagen erst sind die Jungen von einer Asien-Tournee zurückgekehrt - zwölf Tage, acht Städte, neun Konzerte.

Und nun sitzen sie schon wieder in der Probe, diesmal für die Weihnachtsauftritte: vorn die Kleinen mit den hohen Sopranstimmen, manche mit Stofftier unterm Stuhl. Die Mittleren im Alt dahinter. In den letzten Reihen die Großen, die Tenöre und Bässe.

Junge Profis

Es ist ein quirliger, quatschender Haufen. Den Einsatz ihres Kantors Roderich Kreile verpassen darum viele. Der winkt schon nach den ersten Takten ab. "Ruhe!", schimpft er. "Pssst!", zischen die Großen hinterher. Schon verstummt die Horde. Der Kantor will den ersten Ton zehntelsekundengenau."Und Leute: Nehmt endlich eure Ohrenstöpsel raus! Es heißt nicht ‚Stiehle Nacht‘, sondern ‚Sti-hi-le Nacht‘."

Da straffen sich die Rücken wieder, werden die Blicke ernster. Einsatz! Der erste Ton ist nun auf den Punkt, die Aussprache perfekt und was für ein Klang: glockenhelle Soprane und tiefdunkle Bässe. "Geht doch!", sagt Kantor Kreile und schenkt seinen Kruzianern dabei ein anerkennendes Kopfnicken. "Als Nächstes kommt dann Schütz: Machet die Tore weit."

"Cool", entweicht es einem der Jungen. Sein Sitznachbar steht dagegen auf und verlässt den Saal. Nicht, wie sich bald herausstellt, weil ihm dieses Stück missfällt. Er hat Gesangsunterricht, allein. Wenig später muss der Nächste zur Geigenstunde, denn für die Kruzianer ist es Pflicht, ein Instrument zu lernen. Dazu kommen im Alltag Schule und Hausaufgaben und all die anderen Dienste, die ein jeder Sänger zu erledigen hat: Noten sortieren, die Bücherei organisieren, dem Kantor assistieren. Das Leben der Jungen hat einen schnellen Takt. Sie sind Musikprofis - selbst schon als Neun-, Zehn- oder Elfjährige.

Chorprobe mit Kantor Roderich Kreile
Chorprobe mit Kantor Roderich Kreile
© Veit Hengst

Disziplin gehört dazu

Seit Jakob dazugehört, trägt er darum eine Armbanduhr. "Ich würde sonst dauernd zu spät kommen", sagt er. Seine Lehrerin zu Hause im Erzgebirge hatte ihm, dem besten Sänger der Klasse, von dem Chor erzählt. Jakob guckte sich mit seinen Eltern alles an, bestand die Aufnahmeprüfung und zog im August ins Alumnat, das altehrwürdige Internat der Kruzianer. Ob er nicht einen Moment gezögert habe?

"Doch", sagt er, "als man mir gesagt hat, dass ich meine Hasen und meine Modelleisenbahn nicht mitnehmen darf." Denn dafür ist weder Zeit noch Platz im Alumnat. Bis zu drei Jungen teilen sich Wohn- und Schlafzimmer. Jeder hat einen Stuhl, einen Schrank, ein Bett. Bei den Kleineren hängen Bilder von zu Hause an der Wand, bei den Größeren Poster von Musikbands.

Raum zum Alleinsein gibt es wenig. Stattdessen feste Schlaf- und Essenzeiten für alle. Und wer nach seinen Terminen zu spät zum Speisesaal kommt, muss die Tische putzen. Keine Diskussion.

Gemeinsam harmonisch

Auch einzeln lernen die Jungen das singen
Auch einzeln lernen die Jungen das singen
© Veit Hengst

Jakob hat sich schnell daran gewöhnt. "Dann muss man halt pünktlich sein", sagt er. Und Hans fügt noch hinzu, dass jeder diese Regeln von Beginn an kennt. "Wer einfach sein Ding durchziehen will, passt in keinen Chor. Der lebt ja davon, dass man seine Stimme hergibt für den einen großen Klang." Und dieser begeistert die Sänger selbst noch immer oder immer wieder.

Jakob erzählt von seinem ersten Konzert mit dem Kreuzchor. Sein Bauch habe davor ziemlich gekribbelt. "Aber nach dem dritten Lied war das alles weg - und mein Herz hat gehüpft vor Freude, weil alles so schön geklungen hat", sagt er, und seine Augen funkeln dabei. "So ein Gefühl hatte ich beim Einzelsingen noch nie."

Alle schwärmen sie von der Harmonie, die auch nach den Auftritten herrscht – dann, wenn sie wieder die Jungs in Jeans und Sweatshirt sind. Klar gibt es auch Streit im Alumnat. Die Lautstärke in den Zimmern ist ein Dauerthema, auch für Jakob. "Manchmal möchte ich einfach meine Ruhe haben und lesen. Und dann stören die anderen immer", sagt er.

"Aber meistens freue ich mich schon im nächsten Moment wieder darüber, dass ich nicht allein bin." Denn irgendwer ist immer da und hat ein offenes Ohr für Sorgen oder Lust auf Tischtennis. Und irgendwer hat auch die Hausaufgaben gemacht, zum Abschreiben. "Wenn man da gut zusammenarbeitet, hat man trotz aller Termine noch freie Zeit, in der man sein Ding machen kann", sagt Hans und grinst.

In den nun neun Jahren Kreuzchor hat er darum nie ans Aufhören gedacht. Nicht einmal während der anderthalb Jahre, als er im Stimmbruch war, pausieren musste und ein ganz normales Leben lebte. "Das war anfangs ganz nett", erzählt er. "Aber schnell hat mir die Gemeinschaft gefehlt, die Musik, der Applaus, auch der Stress. Einfach das Kruzianer-Sein."

Die Stimme für den großen Klang erheben
Die Stimme für den großen Klang erheben
© Veit Hengst
GEOLINO Nr. 12/09 - Tiefsee-Typen

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