
Die Morgensonne brennt auf das Kolosseum. Längst sind die Reihen des Amphitheaters gefüllt. Flinke Jungen wuseln durch die Menge, verteilen Snacks und schenken Wein aus. Andere spritzen als Erfrischung parfümiertes Wasser über die Köpfe der Sitzenden. Es herrscht Volksfeststimmung. Bis sich plötzlich – wie von Geisterhand – Luken im sandigen Boden der Arena öffnen. Zwei, drei, vier Löwen springen aus den verschlungenen Gewölben in das Rund! Kurz verstummt das Volk, um dann noch lauter zu johlen. Um das Jahr 100 nach Christus herrscht in den meisten Teilen des Römischen Reiches Frieden. Die Bürger lassen es sich gut gehen. Zu gut! Viele gieren nach Sensationen. Und das Kolosseum im Zentrum Roms, die modernste Arena des Reiches, ist der richtige Ort hierfür. Muskelbepackte Kämpfer, Gladiatoren, sind die Stars der Manege und – blutrünstige Raubkatzen wie Löwen, Tiger und Leoparden.
Exotische Tiere bevorzugt
Viele der großen Katzen leben eigentlich in den fernen Steppen Afrikas. Doch hier, im Kolosseum, können die Römer sie hautnah erleben. Es gibt die unterschiedlichsten Shows. Bei den morgendlichen Tierhatzen kämpfen Löwen gegen Leoparden, aber auch Bären gegen Nashörner, Elefanten gegen Stiere...Ein andermal werden verurteilte Straftäter „den Löwen zum Fraß vorgeworfen“ – vor 50 000 Zuschauern! Besonders beliebt beim Publikum ist allerdings der Kampf Mann gegen „Bestie“. Eigens in Zirkusschulen ausgebildete venatores (lateinisch für „Jäger“) treten den Tieren mit Lanzen entgegen. Bestiarii („Tierbändiger“) stacheln die Vierbeiner extra an. Es folgt ein blutiges Gemetzel. Egal, wie dieser Kampf verläuft – das Tier hat niemals eine Chance. Bisweilen tötet man die Katzen einfach nur aus Spaß. Einmal sollen Bogenschützen gar 100 Löwen auf einen Schlag niedergemetzelt haben.
Wildtierhandel im Römischen Reich
Für die blutigen Spiele müssen Tausende Raubkatzen nach Rom geschafft werden. Die römischen Soldaten in Nordafrika oder dem heutigen Irak stellen Fallen und fangen Raubkatzen. Ochsenkarren befördern die Tiere in die nächstgelegenen Hafenstädte, dann geht es über das Mittelmeer in Richtung Rom. Vor den Toren der Stadt werden die Tiere vermutlich in großen Gehegen gehalten. Oft lässt man sie aushungern, damit sie so gefräßig wie möglich in der Arena ankommen. Die maßlosen Spiele in Rom haben Folgen. Spätestens im 4. Jahrhundert nach Christus finden die Jäger, die für Nachschub sorgen sollen, kaum noch Tiere in freier Wildbahn. In Nordafrika gibt es einfach keine Raubkatzen mehr. Die Preise für sie steigen ins Unermessliche. Bis zu 600 000 Sesterzen kostet ein Löwe – umgerechnet sechs Millionen Euro! Doch zu dieser Zeit ist das Römische Reich sowieso schon kurz vor dem Zusammenbruch, der Spaß ist vorbei. In Rom bestaunen Touristen noch heute die imposante Ruine des Kolosseums. Doch die Grausamkeiten, die Schreie, den Jubel von vor 2000 Jahren – sie können es höchstens erahnen.